Herr Herbers, fast jeder nutzt ganz selbstverständlich ChatGPT oder eine andere frei zugängliche KI für private Zwecke, aber welche Rolle kommt KI in Unternehmen zu, heute und künftig?
Firmen wenden KI in vielen Bereichen an, im Marketing, für Texte, Sachbearbeitung oder Chatbots. Das ist ebenso etabliert wie Predictive Maintenance von Maschinen oder Forecasting, etwa im Bereich Sales. Mittlerweile nutzen Unternehmen KI auch in Produktion und Logistik, etwa in Form der Automatisierung durch Robotik und autonome Fahrzeuge, das ist der Bereich der Physical AI. Aber wir würden uns gedanklich einengen, wenn wir den Blick nur auf streng umrissene Einsatzgebiete richteten: Die Intelligenzleistung, die uns jetzt zur Verfügung steht, kann die Steuerung weitaus komplexerer Unternehmensprozesse auf einer taktischen und zunehmend auch strategischen Ebene auf ein viel höheres Niveau heben.
An welchen Beispielen lässt sich diese Idee erläutern?
Schauen wir auf einen Bereich, in dem INFORM Weltmarktführer für KI-Lösungen ist: die Steuerung der Bodenabfertigung an internationalen Verkehrsflughäfen. Die Betreiber setzen zunehmend auf autonome Fahrzeuge und Robotik, manches läuft aber auch personalintensiv ab. Allein bei der Bodenabfertigung der Maschinen auf dem Vorfeld greifen rund 35 Teilprozesse ineinander: vom Aus- und Einladen des Gepäcks sowie der Fracht über die Frischwasserauftankung bis hin zur Catering-Beladung und dem Push-Back der Maschine, dafür werden Menschen, Geräte und Material in der richtigen Menge sowie innerhalb des passenden Zeitfensters benötigt. Hinzu kommen die typischen Unwägbarkeiten, etwa die tatsächlichen Ankunfts- und Abflugzeiten, die Zahl der Passagiere, die Menge des Gepäcks, Verzögerungen beim Check-In, weil Mitarbeitende krankheitsbedingt fehlen. All diese Abläufe brauchen Planung und Steuerung. Klassischerweise übernimmt das eine Planungssoftware – die Verknüpfung mit einer künstlichen Intelligenz ermöglicht es uns nun, die Prozesszusammenhänge auf Basis der ständig wachsenden Datenerfassung immer besser zu verstehen und zu steuern: Process AI kann ein enorm wirksamer Hebel sein, dessen Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft wird.
Eignet sich Process AI auch für Industriebranchen wie Automobil- und Maschinenbau?
Ja. Natürlich wird auch hier Physical AI eingeführt. Doch auch oberhalb der Shopfloor-Ebene lassen sich mit Process AI die prozessualen Zusammenhänge zwischen Personal- und Materialeinsatz, Produktions- und Logistikabläufen, Warenlagerung und -bereitstellung bis hinein in die Absatzmärkte optimieren.
Wie stark nutzen deutsche Unternehmen diese Möglichkeiten?
Technologisch getriebene Firmen wenden sie stärker an, aber die Masse der Industriebetriebe steht noch am Anfang. Dabei könnten sie einen riesigen Wettbewerbsvorteil erringen, wenn sie ihre traditionellen Stärken, die im Moment von allen Seiten hinterfragt werden, mit Prozesssteuerungskomponenten verknüpfen würden. Und warum sollten sie dabei nicht auf Process AI setzen, die hierzulande entworfen wurde, wo die Entwicklung gerade stark vorangeht? Das könnte nicht nur den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken, sondern auch die Unabhängigkeit gegenüber China oder den USA.
Um dieses Thema ging es auch beim Gipfel zur europäischen digitalen Souveränität im November in Berlin, bei dem Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenkamen. Wie stellt sich aus Ihrer Sicht die Situation dar?
Beim Thema KI-Souveränität ist es fünf vor zwölf. Wenn wir amerikanische KI-Modelle und amerikanische Rechenzentren nutzen, erfolgt auch die Wertschöpfung in den USA. Dadurch wird nicht nur die Software-Industrie, sondern auch die anwendende Industrie in Deutschland abhängig von diesen KI-Infrastrukturen. Ich halte es für geopolitisch geboten, eigene deutsche und europäische Infrastrukturen aufzubauen. Technologisch sind wir dazu in der Lage. Gleichzeitig bräuchten wir für die Entwicklung leistungsstarker Modelle einen offeneren, einfacheren Umgang mit Daten aus der Industrie, um diese Modelle zu trainieren. Nach meinem Eindruck steht die Compliance im Moment zu stark im Vordergrund, verglichen mit den Anforderungen des Fortschritts.
Plädieren Sie für radikales Laissezfaire?
Im Gegenteil. Ich erläutere an einem Beispiel, wie es nicht sein sollte: OpenAI hat jüngst mit viel Tamtam den Agent-Modus von ChatGPT vorgestellt, der die Arbeit mit der KI erleichtern und effizienter machen soll. Nur in ein paar Nebensätzen hat das Unternehmen auf die potenziellen Risiken hingewiesen. Monate später zeigt sich, wie gravierend sie sind: Da der Agent auf Websites auch verborgene Texte liest, lässt er sich durch bewusst versteckte Elemente in die falsche Richtung lenken, was riesige Sicherheitslücken reißen kann. Damit werden Unternehmen quasi zu Versuchskaninchen für eine unausgereifte Anwendung. Das geht nicht. Das Fundament jeder KI muss es sein, vernünftig, zuverlässig und für die Anwender verlässlich zu arbeiten. Darauf kann das eigentliche Unterscheidungsmerkmal einer sehr guten KI aufbauen: ihre Leistungsfähigkeit. Wenn Deutschland und Europa also unabhängiger werden wollen, sollten wir eine KI voranbringen, die nicht durch übertriebene Regulatorik gehemmt wird und gleichzeitig ethisch verantwortungsvollen Prinzipien verpflichtet ist, damit entstünde eine Technologie mit Alleinstellungsmerkmal gegenüber den bisherigen Marktführern.
Was bedeutet ethisch verantwortungsvoll?
Die nötige Achtung der Datenintegrität und Sicherheit der Anwenders habe ich schon beschrieben. Ein weiterer Aspekt ist die Übernahme von Verantwortung: Der Mensch darf Entscheidungen nicht an unüberwachte Algorithmen delegieren, das wäre verantwortungslos. Die Angst mancher Menschen rührt oft von der Unsicherheit her, ob die künstliche Intelligenz am Ende nicht doch zu viel Entscheidungsfreiheit genießt. Wir als Gestalter müssen diese Sorgen ernst nehmen. Und täglich daran arbeiten, den Mehrwert von KI zu beweisen.
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