Die digitale Kluft

Das Industrial Internet of Things für die Industrie 4.0 wird nicht von Apple, Google & Co., sondern von deutschen Industrieunternehmen selbst entwickelt. Entsteht hier eine neue Plattform-Ökonomie „Made in Germany“?
Illustrator: Tolga Akdogan
Illustrator: Tolga Akdogan
Mirko Heinemann Redaktion

Bei der Entwicklung der Online-Plattformen hat die deutsche Wirtschaft bislang nicht gerade eine ruhmreiche Rolle eingenommen. Als Amazon und Ebay rund um die Jahrtausendwende ihren Siegeszug begannen, verharrten die Einzelhändler in Lethargie. Als Airbnb, Expedia und Booking.com die Reisebranche angriffen, verharrten die Reisebüros in ihrer Nische. Das Nichtstun hat sich gerächt: Inzwischen finden sich sieben Plattform-Pioniere unter den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt.

Ein Feld haben sie noch nicht beackert. In der Industrie 4.0, der Digitalisierung der Wertschöpfungskette produzierender Unternehmen, sind die Rollen noch nicht verteilt. In Tateinheit mit mittelständischen Softwareherstellern mischen die Industriebetriebe selbst nun den Markt auf. Sie setzen zunehmend eigene digitale Plattformen für den Geschäftskundenbereich auf: Von der Zustandsüberwachung zerspanender Maschinen in der Fertigungshalle über die Berechnung von Ausfallzeiten von Bandsägen bis hin zur signifikanten Reduktion von Leerlaufzeiten reicht die Palette der Anwendungen. Die Systeme sind skalierbar: Einmal installiert, wachsen sie mit und virtualisieren wie optimieren sukzessive die gesamte Wertschöpfungskette, vom Einkauf bis zur Auslieferung und der Logistik. Fast sieben von zehn Unternehmen gaben unlängst in einer Studie des Branchenverbands Bitkom an, dass eine der zentralen Chancen des Betreibens und der Nutzung digitaler Plattformen in der Wahrung der Zukunftsfähigkeit des eigenen Unternehmens liegt. Bei dem Wandel von traditionellen hin zu digital-unterstützten Geschäftsmodellen bedürfe es keines deutschen Silicon Valleys, so der Bundesverband der Deutschen Industrie „sondern vielmehr der Bereitschaft zahlreicher Unternehmen, aktiv in die digitale Transformation ihres Geschäftsmodells zu investieren“.

So hat etwa die Sektion Materials Services von Thyssenkrupp eine eigene Plattform für das Industrial Internet of Things entwickelt. Das „toii“ genannte System war zunächst für den Einsatz im eigenen Unternehmen entwickelt worden. Es digitalisiert analoge Maschinenparks, visualisiert und optimiert Auslastungszeiten, plant Wartungen und vernetzt Prozesse. Mit Hilfe einer App können Mitarbeiter vom Tablet oder Smartphone aus Aufträge einsehen, Materialien im Lager identifizieren und kommissionieren. Da die Daten digital vorliegen, können sie, etwa über Warenwirtschaftssysteme, verarbeitet werden.

Im Logistik-Center von thyssenkrupp Schulte in Rotenburg/Wümme ist das System bereits im Einsatz. „In Rotenburg zeigen wir, was im modernen Werkstoffgeschäft dank Automatisierung, Digitalisierung und künstlicher Intelligenz heute möglich ist“, so Martin Stillger, Vorstandssprecher von Thyssenkrupp Materials Services. „Wir vernetzen Produktionsmaschinen aller Generationen, automatisieren Bestellprozesse, analysieren Warenströme und treffen Vorhersagen für den Werkstoffbedarf unserer Kunden.“

Die Vorteile liegen auf der Hand: Über Plattformen lassen sich Maschinen und Werkzeuge verschiedenster Generationen und Hersteller nicht nur digitalisieren, sondern auch noch mit selbstlernenden Systemen und Smart-Data-Funktionen ausstatten – also mit Künstlicher Intelligenz, KI.

Die setzt Bosch in seiner gerade eingeweihten neuen Halbleiterfabrik in Dresden ein. „Jeden Tag fallen dort Daten im Volumen von 42 Millionen gedruckten DIN-A4-Seiten an“, erklärte der Bosch-Vorstandsvorsitzende Volkmar Denner der FAZ. Zur Auswertung setzt Bosch KI ein. Anders gehe das gar nicht – einerseits, um die Qualität zu kontrollieren, andererseits aber auch, um die Fertigung selbst zu steuern.

KI ist für zwei Drittel der deutschen Unternehmen die „wichtigste Zukunftstechnologie“, so eine Studie des Digitalverbands Bitkom vom April diesen Jahres. Doch lediglich acht Prozent der Unternehmen in Deutschland nutzen KI bereits. Weitere 30 Prozent planen oder diskutieren ihren Einsatz für die Zukunft. Leider zeigen sich bei der „Data Readiness“ noch große Unterschiede. Mit 28 Prozent weist nicht einmal ein Drittel einen hohen Digitalisierungsstand hinsichtlich des eigenen Datenmanagements auf. Mehr als die Hälfte der als „digital“ eingestuften Unternehmen erkennen dagegen in der zusätzlichen Nutzung externer Daten einen hohen Mehrwert für sich.

Ein wesentlicher Grund für die digitale Kluft liegt in der Angst vor kriminellen Machenschaften. Die Sorge vor unautorisiertem Zugriff Dritter auf ihre Daten bremst laut aktueller BDI-Studie neun von zehn Unternehmen bei der Digitalisierung. Diese Zahlen zeigen die hohe Bedeutung der IT-Sicherheit für die Digitalisierung der Industrie.

In der Tat ist die Bedrohungslage dramatisch. Die Schäden durch kriminelle Handlungen im Computer- und Telekombereich sind immens: Das Jahr war noch nicht zur Hälfte vorbei, da bezifferte die UN-Organisation Internationale Fernmeldeunion den Schaden durch Cyberkriminalität weltweit bereits auf sechs Billionen Dollar. Die Dunkelziffer ist hoch: Von Erpressungen mit Ransomware, Datenklau und Wirtschaftsspionage sprechen Unternehmen ungern, und sie werden selten aufgeklärt.


Diesen Umstand könnten deutsche und europäische Entwickler von Plattform-Lösungen zum Vorteil ummünzen – indem sie die Sicherheit ihrer IT nach hohen europäischen Standards bemessen. „Deutschlands künftige Exportschlager müssen Cybersicherheit als zentralen Wesenszug in sich tragen“, sagt Sebastian Artz, Referent Informationssicherheit & Sicherheitspolitik beim Digitalverband Bitkom. Dabei dürfe Cybersicherheit aber nicht bloß als Add-on der Produktentwicklung verstanden werden. „Vielmehr muss Cybersicherheit als wichtiger Enabler für die erfolgreiche digitale Transformation wahrgenommen werden.“ Plattformentwickler, die so denken, könnten demnach die Tore für eine neue Plattform-Ökonomie „Made in Germany“ öffnen.

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