Expedition ins Neuland

Mehr Solarzellen auf dem Dach, mehr Wärmepumpen im Keller, Millionen neue Elektroautos und weniger Fleisch auf dem Teller: Wie die Klimawende zu schaffen wäre.
Illustration: Carina Crenshaw
Illustration: Carina Crenshaw
Michael Bauchmüller Redaktion

Die Räder drehen sich, die Kanzlerin ist zufrieden. In Sachen Fortschritt, so rät Angela Merkel, könne man doch auch eine Menge von Bertha Benz und ihren ersten Runden mit dem Automobil lernen. Schließlich hätten da viele Freunde des Pferdefuhrwerks am Wegesrand gestanden und den Kopf geschüttelt. „Solche Leute hat es gegeben“, erzählt die Kanzlerin. „Aber sie haben sich in der Geschichte nicht durchgesetzt.“ Deutschland sei immer erfolgreich gewesen, „wenn wir fähig waren, Neuland zu betreten“.


Fast auf den Tag genau zehn Jahre ist das her, Merkel weiht seinerzeit den ersten kommerziellen Windpark zur See ein, Baltic 1. Das Neuland heißt damals „Energiewende“. Merkel konnte ja noch nicht ahnen, dass sich das Land zehn Jahre später zu einem wahren Spurt aufmachen würde, immer weiter ins Neuland. Klimaneutralität bis 2045, eine Minderung der deutschen CO2-Emissionen um 65 Prozent gegenüber 1990, und das binnen neun Jahren. Keine Woche nach dem Beschluss der Karlsruher Verfassungsrichter hat die Bundesregierung alle Ziele zum Klimaschutz massiv heraufgeschraubt. Aber ist das überhaupt zu schaffen? Und wie soll das im Alltag gehen?


„Natürlich geht das“, sagt Rainer Baake. Baake, 65, war jahrelang Staatssekretär, erst im Umwelt-, dann im Wirtschaftsministerium. Heute leitet er die Stiftung Klimaneutralität. Seit Monaten rechnet sie durch, wie Deutschland an diesen Punkt gelangen kann – an dem hierzulande nicht mehr Treibhausgase entstehen als sich auf anderem Wege wieder der Atmosphäre entziehen lassen. „Der Schlüssel“, sagt er, „sind die erneuerbaren Energien.“


Denn vermehrt würden Prozesse, für die es bisher Kohle, Gas oder Sprit braucht, auf Strom umgestellt: etwa für Elektroautos oder elektrische Wärmepumpen. Soll Deutschland dadurch klimafreundlich werden, geht das aber nur über Ökostrom, viel Ökostrom. Schätzungen des Thinktanks Agora Energiewende gehen davon aus, dass dazu in Nord- und Ostsee bis 2030 Windparks mit einer Kapazität von 25 Gigawatt entstehen müssten – statt derzeit gut neun Gigawatt. An Land müssten sich Windräder mit einer Gesamtleistung von 80 Gigawatt drehen – statt bisher 55. „Das ist kein Pappenstiel“, sagt Jürgen Quentin, der sich bei der Fachagentur „Windenergie an Land“ mit dem Ausbau befasst. „Aber auch alles andere als unmöglich.“ 1200 Windräder müssten dazu zusätzlich errichtet werden, jedes Jahr. Derzeit gibt es gut 28 000 Windräder im Land. Und auch die Leistung von Solarzellen müsste sich nahezu verdreifachen, auf 150 Gigawatt.


Der grüne Strom, so hat es Baakes Stiftung ausrechnen lassen, könnte bis 2030 rund 14 Millionen Elektroautos antreiben – zehnmal so viele wie heute. In sechs Millionen Häusern könnten Wärmepumpen laufen, sechsmal mehr als derzeit. Viele Gebäude könnten so ohne große Sanierungsumbauten klimafreundlicher werden. Aber viel Zeit bleibt nicht, bis 2045 sind es nur 24 Jahre. „Ob das gelingt, entscheidet sich in der Zeit bis 2030“, sagt Baake.


Wie am Fließband produziert seine Stiftung derzeit Studien und Papiere, zuletzt – und zufällig nur Tage vor dem Karlsruher Beschluss – zur Klimaneutralität bis 2045. „Im Grunde brauchen wir eine Verdoppelung bis Verdreifachung der Geschwindigkeit“, sagt Baake. Es reiche, zwei Prozent der Landesfläche für Windräder zu nutzen. Dazu allerdings müssten Konflikte gelöst werden, vor allem, was den Arten- und Naturschutz angeht. Windräder in Wäldern etwa sind vielen suspekt. Und Genehmigungen müssten viel schneller kommen als bislang. Was wiederum ganz neue Regelungen erfordere. „Wir haben jahrelang hier ein bisschen gedreht und da ein bisschen“, sagt Baake. „Jetzt muss das Notwendige getan werden, um die Ziele zu erreichen.“


Das Umweltbundesamt hatte schon 2019 errechnet, wie viel Treibhausgase sich bis 2030 im besten Fall einsparen ließen. Selbst minus 70 Prozent, so zeigte es, ließen sich erreichen. „Im Grunde kennen wir die Bausteine, die bewegt werden müssen“, sagt Dirk Messner, der Präsident der Dessauer Behörde. „Unabdingbar“ etwa seien der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energie und der Elektromobilität, zudem eine „Bauwende“. Das bedeutet vor allem: ein schrittweiser Abschied von Öl- und Gasheizungen. Der Fleischkonsum müsse sinken, der CO2-Preis aber steigen – mit dem Ergebnis, dass nach 2030 keine Kohlekraftwerke mehr laufen. „Wir müssen alle Bausteine nach vorne bringen“, sagt Messner. „Bis an die Grenze dessen, was möglich ist.“


Aber geht das so einfach? In einem Land, dessen Wohlstand auf einen Motor gebaut ist, wie er schon Bertha Benz' Gefährt antrieb? In dem Bürgerinnen und Bürger sich gegen neue Windräder wehren? In dem viele den Klimaschutz vor allem mit immer neuen Verboten verbinden? Man müsse mehr über die Zugewinne reden, sagt Messner. „In Effizienzstandards verliebt sich keiner.“ Aber Menschen könnten Leidenschaft entwickeln für eine lebenswerte Stadt mit weniger Autos, weniger Schadstoffen und weniger Lärm. Oder für eine Landwirtschaft, in der es Kühen und Schweinen besser geht und zwischen Äckern und Wiesen auch seltene Arten wieder Platz fänden. „Es muss deutlich werden, dass wir vor einem Aufbruch in ein besseres Land stehen.“


Dieser Aufbruch würde auch die Industrie stark verändern. Vermehrt könnte aus erneuerbaren Energien hergestellter Wasserstoff fossile Energien ersetzen – mit enormen Effekten etwa bei der Stahlerzeugung, die allein für rund acht Prozent der deutschen Emissionen steht. Andere Prozesse ließen sich zudem mit weniger Energie bewerkstelligen. „In diesem Umbau liegt eine riesige Chance für die deutsche Industrie“, sagt Claudia Kemfert, die sich am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung mit Klima und Energie befasst. „Es gibt einen unglaublichen Modernisierungsbedarf in der Industrie.“ Gelinge es, diese Modernisierung mit Staatshilfe in die richtige Richtung zu bewegen, sei mehr Klimaschutz keine Bedrohung. „Andersrum wird ein Schuh daraus“, sagt Kemfert. „Wenn wir jetzt nicht investieren, verlieren wir den globalen Wettbewerb um den klügsten Klimaschutz.“ Deutschland stehe an einem „Wendepunkt“.

Ersterscheinung: Süddeutsche Zeitung, 8./9. Mai 2021

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