»Seltene Erkrankungen bleiben eine Herausforderung«

Es sind unbekannte Muster, die Ärzten die Diagnose bei seltenen Erkrankungen erschweren. Digitalisierung und neue Technologien können unterstützen.
Illustration: Luisa Jung
Interview: Julia Thiem Redaktion

Herr Dr. Müller, die Aufmerksamkeit für seltene Erkrankungen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Sollten Patienten da nicht mittlerweile auch schneller und zielgerichteter eine Diagnose bekommen?
Es ist erfreulich und berechtigt, dass die seltenen Erkrankungen zunehmend mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren – was vor allem der Arbeit der Betroffenen im Rahmen zahlreicher Selbsthilfeorganisationen, der ACHSE e.V. und auch der Zentren für seltene Erkrankungen zu verdanken ist. Dennoch darf man nicht vergessen, dass es etwa 8.000 verschiedene seltene Erkrankungen mit vielfältiger Ausprägung der Symptome in häufig unterschiedlichen Organsystemen gibt. Im klinischen Alltag bleiben sie damit eine diagnostische Herausforderung.

 

Warum ist es im Praxisalltag so schwierig, eine umfassende Differenzialdiagnose zu erstellen?
Eine Differenzialdiagnose zu erstellen heißt, alle möglichen ursächlichen Erkrankungen für einen gegebenen Symptomkomplex aufzustellen. Das ist unbestritten eine der wichtigsten aber eben auch intellektuell herausforderndsten Aufgaben des Arztberufs. Letztendlich geht es darum, das Wissen, welches über einen Patienten existiert, mit dem vorhandenen medizinischen Wissen abzugleichen. Allerdings funktioniert eine der wichtigsten diagnostischen Heuristiken, die Mustererkennung, bei unbekannten Symptomkomplexen schlichtweg nicht. Darüber hinaus fehlt es vermehrt an Zeit – zum einen für die intensive eigene Recherche, zum anderen aber auch für den Austausch mit KollegInnen. Beides schmälert den diagnostischen Erfolg.

 

Dabei müssen Ärzte heute ja keine „wandelnden Lexika“ mehr sein. Dank Internet und Digitalisierung sind immer mehr Informationen frei verfügbar.
Allein das Vorhandensein an frei verfügbarer Information schafft noch keinen Mehrwert. Im Zuge der Digitalisierung erleben wir ein geradezu exponentielles Wachstum von Informationen – zum einen beim Fachwissen, zum anderen bei Patientendaten. Mit dieser Fülle an Informationen kognitiv umzugehen, wird zunehmend zu einer Herausforderung bei diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen. Und Universalsuchmaschinen für die Diagnosestellung bei seltenen Erkrankungen heranzuziehen, ist aus meiner Sicht nicht empfehlenswert. Denn die vorherrschenden Ranking-Algorithmen sowie kommerzielle Aspekte haben zur Folge, dass diese Erkrankungsgruppe bei der Anwendung von Suchmaschinen eher unterrepräsentiert wird. Hier gibt es spezialisierte Programme für den ärztlichen Fachanwender.

 

Welche Programme sind das?
Da wäre zum einen FindZebra zu nennen, eine Suchmaschine, die nur qualifizierte Informationen aus öffentlichen Quellen über seltene Erkrankungen in ihren Index aufnimmt. Das erhöht die Präzision bei Suchanfragen. Gänzlich anders funktioniert der Phenomizer, der primär für die klinische Diagnostik in der Humangenetik konzipiert wurde und auf dem technischen Prinzip der Ontologie basiert. Eine Ontologie ist hierbei als formale, geordnete Menge von klinischen Begriffen wie Symptomen, Diagnosen und Veränderungen von Laborparametern zu verstehen, die nach passenden Erkrankungen durchsucht wird.

 

Wie hoch ist die Qualität der Suchergebnisse in diesen Programmen?
Allgemein ist die Evidenz für den Einsatz von Systemen zur computerunterstützten Diagnosefindung noch sehr gering. Wir verfügen derzeit nur über einzelne Fallbeschreibungen und kleine retrospektive Studien. Hier gilt es, Evidenz in und vor allem durch die Anwendung zu schaffen.

 

Wobei es natürlich äußerst verlockend klingt, per Mausklick zur Diagnose zu gelangen.
Verlockend sicherlich, jedoch auch risikoreich. Denn neben Tools für den ärztlichen Anwender, konsultieren natürlich auch Patienten und spezielle Apps das Internet. Deutlich überspitzt formuliert, wird der Arzt zunehmend nur noch zur Zweitmeinung konsultiert. Derzeit lässt sich beobachten, dass vermehrt sogenannte Symptom Checker, teilweise gepaart mit Chatbots, auf den Markt kommen. Sie bewerten die vom Patienten eingegebenen Symptome nach Dringlichkeit und unterbreiten Diagnosevorschläge. Allerdings fehlt auch hier noch die wissenschaftliche Grundlage. Ich sehe grundsätzlich ein großes Potenzial, um sowohl die Diagnosestellung als auch die Versorgung zu verbessern. Darüber hinaus könnten Ressourcen in unserem Gesundheitssystem eingespart werden. Allerdings müssen wir dafür diese Systeme einer kritischen klinischen Bewertung durch robuste Studien mit offener Publikation unterziehen. Auch darf das Risiko fehlerhafter Algorithmen nicht unterschätzt werden.

 

Könnten denn neue Entwicklungen wie Big Data oder KI bei der Diagnose seltener Erkrankungen helfen?
Wenn Sie die Entwicklung auf diesem Gebiet betrachten, wird deutlich, dass momentan Bild- und genetische Daten im Fokus stehen. Beide Kategorien lassen sich im Kontext der seltenen Erkrankungen zur Entscheidungsunterstützung nutzen. So wurde Anfang des Jahres ein deep-learning-basierter Algorithmus publiziert, der Gesichtsmerkmale auf Fotos zur Krankheitsidentifikation heranzieht. Außerdem sind Algorithmen in der Analyse des Genoms nicht mehr wegzudenken und dienen dem Abgleich zwischen genetischen Varianten und Symptomkomplexen. Dies ist wichtig, da etwa 80 Prozent der seltenen Erkrankungen genetisch determiniert sind. Es existieren ebenfalls Algorithmen zur Identifikation neuer oder gar bestehender Medikamente für die Therapie seltener Erkrankungen. Hierdurch kann die Entwicklung neuer Medikamente beschleunigt und effizienter gestaltet werden.

 

Vor dem Hintergrund all dieser technologischen Entwicklungen: Woran liegt es, dass sich die Anfragen allein am Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen, dem ZusE, in Marburg derart häufen?
Das liegt sicherlich daran, dass wir an unserem Zentrum ganz bewusst nicht nur den Menschen mit seltenen Erkrankungen, sondern auch Menschen mit bislang unerkannten Erkrankungen helfen möchten. Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass die Zentren für seltene Erkrankungen bundesweit sehr viele Anfragen erreichen. An Strukturen zur nachhaltigen Finanzierung mangelt es dabei jedoch. Die Digitalisierung, spezifische Algorithmen und Kooperation über Telemedizin können daher definitiv ihren Beitrag zur verbesserten Diagnosestellung bei komplexen Fällen leisten.

 

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Dr. med. Tobias Müller studierte Wirtschaftsinformatik und Medizin. Anfang 2015 begann er seine Tätigkeit als Arzt in Weiterbildung am Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) bei Prof. Dr. Jürgen Schäfer am Universitätsklinikum Marburg. Seit Juni 2017 leitet er die Stabsstelle Digitale Transformation der Rhön-Klinikum AG in Bad Neustadt a. d. Saale.

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