Die meisten Autofahrer, die an der Bayerstraße in München vorbeifahren, haben keinen Blick für den modernen Zweckbau hinter der Hausnummer 34. Dabei ist im Gebäude die geballte Innovationskraft des Kontinents versammelt. Hier residiert das Europäische Patentamt, das Erfindungen patentrechtlich international schützt. Und die Branche, deren Patente in letzter Zeit den größten Anteil bei den Anmeldungen ausmacht, ist die Medizintechnik.
10.679 Patentanträge aus aller Welt wurden in der Medizintechnik im Jahr 2013 gestellt. Danach folgen erst die Klassiker: elektronische Geräte, digitale Kommunikation, Computertechnologien und Transportwesen. Von den Anträgen wurden in der Medizintechnik 4.862 Patente weltweit zugelassen. Aus Deutschland kamen 1.464 Anträge in der Medizintechnik und 665 zugelassene Patente. Das ist der zweite Platz hinter den USA. Der patentrechtliche Schutz erstreckt sich auf die Länder der EU, außerdem auf Japan, die USA und über 20 weitere Staaten.
Dass in der Medizin geforscht wird wie kaum in einer anderen Branche, liegt an den einzigartigen Rahmenbedingungen: In kaum einer Branche treffen derart viele Herausforderungen auf die riesigen Potenziale globaler Absatzmöglichkeiten. Aufstrebende Schwellenländer verbessern sukzessive ihre medizinische Versorgung. In Industrieregionen wie Europa und den USA ist es der demografische Wandel, der als Wachtumstreiber fungiert: Innovative Ansätze für die Behandlung der Volks- und Alterskrankheiten sind gefragt, Therapien für Krebs, Herz- & Kreislaufleiden, intelligente Prothetik und verbesserte Diagnoseverfahren.
Vor allem der Kampf gegen den Krebs sorgt für einen starken Innovationsschub: In der so genannten „personalisierten Medizin“ etwa werden große Fortschritte erzielt. Der Einsatz von Big Data-Technologien eröffnet hier die Möglichkeit, mit Hilfe der Auswertung großer Datenmengen aus großen Patientengruppen neue Ansätze für die klinische Forschung zu ermitteln. In der Diagnose sei Big Data bereits ein probates Mittel, so der Onkologe Christof von Kalle in einem kürzlich erschienenen Interview mit der FAZ: „Viele Patienten erhalten eine zuverlässigere Diagnose, wenn die Genomdaten mit den klinischen Verläufen zusammengeführt und molekulare Eigenschaften berücksichtigt werden können“, so Kalle. „Die nächste Stufe erreichen wir, wenn ein Arzt Medikamente auswählen kann, die gezielt gestörte Stoffwechselwege attackieren. Und irgendwann führt das zu einer frühzeitigen Diagnostik, weil sich bestimmte Mutationen mit einfachen Tests im Blutstrom der Patienten nachweisen lassen.“ Auch Behandlungserfolge seien mit Big Data absehbar.
»Der Investitionsanteil für Forschung hat sich binnen 15 Jahren verdoppelt.«
Ein weiteres Wachstumsfeld ist die Identifizierung von Biomarkern zur Diagnose und der Entwicklung von Prognose-Tests für die Krebsmedizin. Für 2015 verspricht das Magazin „Genetic Engineering & Biotechnology News“ (GEN) als Forschungs-Schwerpunkte außerdem Datenqualität, Immuntherapie und Kombinationsbehandlungen. Vor allem letztere haben sich in klinischen Studien – insbesondere für späte Brustkrebs-Stadien sowie Brust-, Lungen- und Prostatakrebs – als vielversprechend erwiesen.
In diesen Sektor werden auch in Zukunft erhebliche F&E-Mittel fließen. Die Branche rechnet für das nächste Jahr mit einem „explosiven Wachstum“. Dabei hat die deutsche Pharmaindustrie ihren F&E-Etat in den vergangenen 15 Jahren bereits verdoppelt - und ist damit extrem forschungsintensiv: Fast 14 Prozent ihres Umsatzes wendet sie für F&E auf. Die Medizintechnik hat mit rund neun Prozent des Umsatzes in F&E ebenfalls noch einen Spitzenplatz. Die Automobilindustrie gibt genau so viel für F&E aus. Andere Industriesektoren investieren weitaus weniger in ihre Forschung.
2011 waren laut Branchenreport des Verband der forschenden Pharmahersteller (vfa) zudem 85 Prozent der Unternehmen der pharmazeutischen Industrie so genannte „Innovatoren“, haben also in den letzten drei Jahren mindestens eine Produkt- oder Prozessinnovation eingeführt. Dabei erwirtschaften die Pharmaunternehmen nur 17 Prozent des Branchenumsatzes mit Produktneuheiten. Im Automobilbau ist das Verhältnis deutlich zu Gunsten des Nutzens verschoben: 60 Prozent der Unternehmen sind Innovatoren, die Hälfte des Branchenumsatzes entfällt auf Produktneuheiten. Forschung für den Menschen ist demnach nicht so gewinnversprechend. Dafür höher reputiert.
Allerdings: Forschung ist in der Medizintechnik vor allem Sache der Konzerne: Die zehn größten Unternehmen in der Medizintechnik-Industrie vereinen rund 80 Prozent der internen F&E-Aufwendungen und des F&E-Personals. Die zahlreichen kleinen Unternehmen forschen deutlich weniger. Daher liegt der Anteil Forschung treibender Unternehmen in der Medizintechnik-Branche mit 17 Prozent insgesamt unter dem Industriedurchschnitt von 20 Prozent.
Vor allem innovative Unternehmen leiden unter den hohen Einstiegskosten: High Tech-Medizinprodukte durchlaufen einen Entwicklungsprozess von zehn bis 12 Jahren. Vor der Markteinführung steht eine klinische Prüfung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und die Ethikkommission. Seit der Novellierung des Medizinproduktegesetz 2010 sei dieses Verfahren erheblich verlängert worden, kritisieren Unternehmer. Speziell der Aufwand für die Dokumentation sei stark angewachsen.
Damit verlängerten sich nicht nur die Zeiträume bis zur Zulassung, auch die Kosten seien immens angewachsen. Speziell für Start Ups oder kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) seien sie kaum noch zu stemmen. Daher wird F&E in der Medizintechnik nur von Unternehmen ab einer gewissen Größe geleistet. Im Bericht zur neuen Hightech-Strategie der Bundesregierung heißt es ausdrücklich, dass insbesondere die mittelständische Medizintechnikbranche gestärkt werden soll.