Das Wissen vom Leben

Ayurveda ist vielen als Wellnesstrend aus Indien bekannt. Dabei verbirgt sich hinter dem „Wissen vom Leben“ ein komplexes Diagnose- und Therapiesystem, das sogar Wissenschaftler:innen an der Berliner Charité erforschen.

Illustration: Ivonne Schreiber
Illustration: Ivonne Schreiber
Julia Thiem Redaktion

Vata, Pitta, Kapha – das sind die drei „Doshas“ im Ayurveda. Jeder Mensch hat Anteile von jedem dieser drei Konstitutionstypen in sich, ihr jeweiliges Verhältnis ist angeboren. Der Konstitutionstyp gibt vor, wie es einem Menschen körperlich und emotional geht. Ziel ist es, dass möglichst ein Gleichgewicht der drei Typen vorherrscht, denn Balance der Doshas ist die Grundlage für Gesundheit. Gibt es ein Ungleichgewicht, gilt es, entsprechend entgegenzuwirken.

Was zugegeben hier sehr stark vereinfacht dargestellt wird, ist das Grundprinzip einer ganzheitlichen Gesundheitslehre, die vor über 2.000 Jahren auf dem indischen Subkontinent entstanden und damit eines der ältesten naturheilkundlichen Systeme der Menschheit ist. Ayurveda heißt wörtlich übersetzt „Wissen vom Leben“ und ist seit Mitte der 1970er Jahre eine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte traditionelle Medizin. 

In Deutschland erlangte Ayurveda vor allem mit dem wachsenden Interesse an Yoga zunehmend Aufmerksamkeit – hier allerdings zunächst im Kontext von Wellness und Tourismus. In Indien und Sri Lanka kann man in einem der unzähligen Ayurveda-Hotels wochenweise Kuren buchen, die dann mit angepasstem Ernährungsplan, Massagen oder Stirngüssen für Erholung sorgen sollen. 

Jenseits des Tourismus hat Ayurveda in der Region allerdings tatsächlich nach wie vor eine große Bedeutung für das Gesundheitssystem. Alleine in Indien sind laut Zahlen der Charité 400.000 ayurvedische Ärzt:innen registriert, die an einer der mehr als 250 von der indischen Regierung anerkannten und geförderten Universitäten systematisch ausgebildet werden. Dass ausgerechnet die Charité solche Fakten zur Verfügung stellt, hat einen einfachen Grund: Dort gibt es eine Forschungsplattform der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde und des Zentrums für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin, die wissenschaftliche Antworten auf das Wirkprinzip des Ayurveda finden will.
 

AYURVEDA-MEDIZIN WIRKT


Aber nicht nur da hat man das Potenzial und das tiefe Wissen des indischen Gesundheitsprinzips erkannt. Die Deutsche Gesellschaft für Ayurveda rechnet vor, dass sich gerade bei Volkskrankheiten wie Typ-II-Diabetes oder Bluthochdruck die Kosten für Medikamente senken lassen könnten, weil die Ayurveda-Medizin eben ganzheitlich ausgerichtet ist und beispielsweise auch Lebensstil, Kräuterpräparate oder Meditation miteinbezieht.

Bereits 2011 konnte ein Forschungszusammenschluss aus Kalifornien und Indien in einer allerersten doppelblinden, randomisierten und placebokontrollierten Studie zeigen, dass Ayurveda-Medizin bei rheumatoider Arthritis genauso gut wirkt wie das Medikament Methotrexat – allerdings mit deutlich weniger Nebenwirkungen. Und eine 2018 von Wissenschaftler:innen am Immanuel Krankenhaus Berlin durchgeführte Studie zur Anwendung von Ayurveda bei Kniegelenksarthrose deutet ebenfalls an, dass sich die Behandlung vorteilhaft auf die Verringerung von Symptomen dieser Beschwerden auswirkt. „Behandlung“ hieß in dem Fall: Ölmassagen, Dampfbehandlung und Kräuterbeutelmassagen in Kombination mit Knie-Yoga-Übungen sowie ayurvedischen Nahrungsergänzungen.
 

IN TEILEN FEHLT DIE EVIDENZ


Allerdings sind genau diese Nahrungsergänzungen für Forschung und Wissenschaft in Deutschland zum Teil auch eine besondere Herausforderung. Denn nicht immer ist rechtlich geklärt, wie diese Mittel und Heilkräuter von den deutschen und europäischen Arzneimittelaufsichten eingestuft werden. 

Um eines dieser Heilkräuter gibt es aktuell auch tatsächlich Diskussionen: Ashwagandha. Im Ayurveda wird die Schlafbeere „Königin der Pflanzen“ genannt und soll vor allem stresslindernd wirken. Allerdings gibt es auch Nebenwirkungen. Die Schlafbeere wirkt lebertoxisch, kann zu Übelkeit und auch Hautausschlägen führen. Und weil diese Nebenwirkungen ebenso wie die versprochenen positiven Wirkungen bisher wissenschaftlich nicht ausreichend belegt seien, hat das Bundesinstitut für Risikobewertung Anfang September nun eine entsprechende Mitteilung zu Ashwagandha gemacht. Insbesondere Kinder, Schwangere und stillende Mütter sowie Personen mit einer Erkrankung der Leber sollten darauf verzichten. 

Die Deutsche Ärztegesellschaft für Ayurveda-Medizin e.V. weist im Gegenzug in einer Stellungnahme darauf hin, dass Ashwagandha seit mehr als 40 Jahren auch in Europa erfolgreich und sicher eingesetzt wird. Hier möchte man unnötigen Sorgen entgegenwirken, wobei auch klar betont wird, „dass der Einsatz von pflanzlichen Heilmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln grundsätzlich verantwortungsvoll und sicher geschehen sollte“.
 

AYURVEDA-MEDIZIN DEN AYURVEDA-MEDIZINER:INNEN


Und genau deshalb gibt es in Indien auch dermaßen viele ausgebildete Ayurveda-Mediziner:innen: Weil eben die Behandlungen und Kuren auch belastend für den Körper sein können. Das berichten selbst Tourist:innen regelmäßig. Gerade durch die Ernährungsumstellung, Heilmittel und Behandlungen werden Prozesse im Körper angestoßen, die physisch wie psychisch zunächst einmal Energie kosten. Wer beispielsweise schon einmal gefastet hat, weiß, die ersten Tage sind hart. Müdigkeit und ein angeschlagener Allgemeinzustand sind keine Seltenheit, bevor sich langfristig Besserung einstellt. Genau deshalb sollte man mit Ayurveda nach Möglichkeiten auch nicht selbst experimentieren, sondern Ayurveda-Mediziner:innen zu Rate ziehen, von denen es auch hierzulande mittlerweile viele gibt. Denn die Nachfrage ist da, wie eine aktuelle Studie von Dr. Christian Keßler zeigt. Keßler ist Forscher am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité Berlin und bietet am Berliner Immanuel Krankenhaus auch eine Ayurveda-Sprechstunde an. Befragt wurden mehr als 4.000 Menschen zwischen 16 und 75 Jahren. „Ich war überrascht, wie viele Menschen hierzulande tatsächlich Ayurveda nutzen“, sagt Keßler. Rund 28 Prozent brachten Ayurveda in erster Linie mit indischer Medizin in Verbindung, 18 Prozent eher mit Wellness. Rund ein Drittel glaubten an ein therapeutisches Potenzial von Ayurveda. Und jeder Zehnte gab an, Ayurveda bereits in irgendeiner Form genutzt zu haben – also den Versuch unternommen haben, Vata, Pitta und Kapha ins Gleichgewicht zu bringen.

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