Frustration über Anwendungen

Die Digitalisierung soll den Ärztinnen und Ärzten völlig neue diagnostische Möglichkeiten eröffnen. Doch vor allem viele Niedergelassene sehen Risiken.
Illustration: Sascha Düvel
Illustration: Sascha Düvel
Eike Schulze Redaktion

Im Schatten der Öffentlichkeit vollzieht sich ein langsamer Wandel: Die Digitalisierung im Gesundheitsbereich hält langsam, aber sicher Einzug. Was durch Industrie 4.0 angestoßen, setzt sich in der Breite der Betriebe fort. Sowohl in Krankenhäusern wie in Praxen schreitet die Technisierung voran. Dieser Prozess wird auch durch die Politik gewollt und unterstützt. Ärzte befinden sich im Spannungsfeld zwischen technischer Entwicklung und ihren Patienten. Einerseits den digitalen Fortschritt nutzen, andererseits eine zugewandte Beziehung zum Patienten halten. Wie stehen Ärzte zur technischen Entwicklung im Gesundheitssystem?  


Wovon gerade die Politik träumt, ist der gläserne Patient. Technische Anwendungen ermitteln Daten und so soll die Diagnose von Krankheiten oder Krankheitsgefahren frühzeitig erfolgen können. Diese digitalen Gesundheitsanwendungen (DIGA) sollen zum Herzstück für verhaltensorientierte Maßnahmen zugunsten des Patienten werden. Die Digital Therapeuticals (DTX) werden zunehmend bei Diabetes, Herzerkrankungen, Alzheimer und auch bei Depression zur Behandlung und Verhütung eingesetzt.


Ein weiterer Bereich, der der ärztlichen Diagnostik dienen soll, ist die Digitale Anatomie. Hierbei geht es um die 3-D-Aufarbeitung und Visualisierung anatomischer Daten. Damit kann der Körper eines Patienten aus jedem Blickwinkel betrachtet werden. Im Rettungsdienst findet das elektronische Einsatzprotokoll (EEP)  Anwendung, das zum einen die Dokumentation sichert und zum anderen durch Pflichtfelder alle Parameter auf einen Blick erfasst. Nichts muss mehr händisch erfasst und übertragen werden. Gerade das EEP wird im Rettungsalltag zunehmend verwendet. Zwar gibt es all diese Anwendungen schon, aber sie sind noch nicht alle durch Klinik- oder Praxisärzte in ihren Arbeitsalltag übernommen. „Die Digitalisierung werde die medizinische Versorgung und damit auch den Arztberuf fundamental ändern“, erläuterte Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin, die Situation in einer ärztlichen Talkrunde.


Die Corona-Pandemie hat einen weiteren Digitalisierungsschub zwischen Arzt und Patient ausgelöst. Videosprechstunden, elektronische Patientenakte, Gesundheits-Apps und das elektronische Rezept sind die prägnantesten Beispiele hierfür. Vor diesem Hintergrund entstand im vorigen Jahr eine gemeinsame Studie von Bitkom und dem Verband der Ärztinnen und Ärzte Deutschland, Hartmannbund, zur Einstellung von Ärzten zur Digitalisierung. Die Standesorganisation wollte wissen, wie die Ärzteschaft dazu steht.


Die Ergebnisse der Studie sind dabei sehr differenziert. Während Krankenhausärzte die Digitalisierung mit einer großen Mehrheit von 86 Prozent begrüßen, sieht dies bei den niedergelassenen Ärzten zum Teil ganz anders aus. Zwar finden sich mit 53 Prozent auch hier Befürworter, aber  39 Prozent sehen Risiken bei der Umsetzung, Bedenken insbesondere  durch die Anwendung der Gesundheitsapp auf die Arzt-Patienten-Beziehung. Denn: Werden bereits Daten gesammelt, bevor eine Indikation gestellt wurde, kann der Arzt erst später die Relevanz der gesammelten Informationen feststellen. Damit besteht die Gefahr, sinnlos Daten zu ermitteln.  


Allerdings besteht seit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetz es (DVG) eine Pflicht für Arztpraxen, sich an die Telematikinfrastruktur (TI) anzubinden. Passiert dies nicht, droht ein erheblicher Honorarabzug. Nur wenige Ärzte, die ausschließlich Privatpatienten behandeln, können sich dem System noch entziehen. Ansonsten machen die gesetzlichen Kranken- und Ersatzkassen die Vorschriften.  Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist über die Digitalisierung der Praxen nicht wirklich begeistert. So kommt sie im Praxisbarometer Digitalisierung 2021 zu dem Schluss, dass einige Anwendungen schlicht unreif sind. So frustriert beispielsweise die Anwendung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) viele Praxisärzte. Hier macht sich bemerkbar, dass diese Anwendung überstürzt und ohne Bezug zum Praxisalltag eingeführt wurde. Kritisch scheinen Praxisärzte auch gegenüber der Sammlung elektronischer Patientendaten zu sein. Das Interesse an der elektronischen Patientenakte geht zurück.


Zwar wird gerade von vielen Praxen manche Anwendung kritisch gesehen, aber es gibt auch positive Rückmeldungen, dass die Digitalisierung auch Fortschritte für den Arbeitsablauf und den Patientenkontakt bedeutet. So erwarten immerhin 40 Prozent der Befragten einen hohen Nutzen durch die Online-Fallbesprechung mit Kollegen und fast genauso viele sehen die digitale Ausstellung von Impfausweisen oder medizinischen Pässen oder Verordnungen und Bescheinigungen positiv für ihre Arbeit.


Als weniger nützlich wird die Verwendung von Patienten-Apps von Medizinern gesehen. Das Sammeln und Übertragen von Patientendaten spielt daher eine geringere Rolle. Insbesondere die negativen Erfahrungen mit der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung haben das Bild von der Digitalisierung getrübt. Hier wünschen sich Arztpraxen ein größeres Mitspracherecht bei der Entwicklung von digitalen Anwendungen, damit der Nutzen gesichert und die Ausführung den Arbeitsalltag verbessert werden. Dementsprechend macht sich die Bundesärztekammer Gedanken, wie die Wünsche von Ärzten, aber auch von Patienten und den Krankenkassen unter einen Hut zu bringen sind. So fordert die Vertretung der Ärzteschaft, dass sie selbst die Möglichkeit bekommt, selbstentwickelte Patientenakten oder Patienten-Apps anzubieten.


Zwei Dinge werden sich zukünftig wesentlich ändern: der informierte Patient und die Anpassung des Medizinstudiums. Durch die Informationen aus Gesundheits-Apps dürften viel mehr Patienten ihren Lebensstil nach den ermittelten Daten ausrichten. Gleichzeitig wird die Vermittlung der Digitalisierung im Medizinstudium einen deutlich größeren Raum einnehmen. Zukünftig wird ein Arzt nicht nur konkrete Krankheiten behandeln, sondern auch zum Entwickler von patientenbezogener Digitalisierung werden.

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