»Du musst doch was essen!«

Oder auch nicht? Essenspausen, also Fastenzeiten, gibt es seit Menschengedenken. Erst in der Neuzeit hat sich die Idee durchgesetzt, dass man immer und überall satt und genug zu essen haben muss. Mit fatalen Folgen.
Illustration: Sascha Düvel
Illustration: Sascha Düvel
Mirko Heinemann Redaktion

Liegt es an der Pandemie? Am langen, nasskalten Winter, der hinter uns liegt? Subjektiver Eindruck: Fasten, also der bewusste Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel über einen fest definierten Zeitraum, steht hoch im Kurs. Die einen verzichten einen Monat lang auf Fleisch, die anderen auf Zucker oder auf Alkohol. Eine Freundin übt sich im Intervallfasten: 16 Stunden täglich wird nichts gegessen, die Mahlzeiten in den acht übrigen Stunden verzehrt. Drei Arbeitskolleginnen haben gemeinsam eine siebentägige Kur absolviert, während der sie ausschließlich Gemüsesäfte zu sich nahmen. Sie fühle sich erfrischt, sagt eine, und dass sich ihre Wahrnehmung und Aufmerksamkeit verbessert hätten.


Ein anderer Kollege fastet regelmäßig nach der Methode des Fastenarztes Otto Buchinger, der Anfang des 20. Jahrhunderts lebte. Dabei verzichtet man mindestens fünf Tage, besser noch zehn Tage lang auf Nahrung. Erlaubt sind nur Wasser, Tees und eine dünne Gemüsebrühe am Tag. Das ist quasi eine Nulldiät. Diese Form des Fastens soll Gewicht reduzieren und das Wohlbefinden verbessern. Aber es soll auch Krankheiten heilen. Davon war Buchinger selbst überzeugt. In seiner Privatklinik behandelte er Patienten mit verschiedenen Erkrankungen. Angeblich soll er auch sich selbst von Rheuma kuriert haben. Neben der medizinischen Ebene soll Fasten auch auf psychosozialer und spiritueller Ebene wirken. Buchinger sprach daher auch von einer „Diät der Seele“. Für diese Form des Nahrungsverzichts hat sich auch der Begriff „Heilfasten“ durchgesetzt.


Ist das noch Schulmedizin oder schon Esoterik? Lange Zeit galt der Verzicht auf Nahrung unter Medizinern als kontraproduktiv, sogar als ungesund. Das müsse sich schleunigst ändern, findet Dr. Matthias Riedl, Ärztlicher Leiter des Medicum Hamburg. „Wir setzen Intervallfasten und Fasten seit vielen Jahren erfolgreich bei vielen Erkrankungen ein“, erklärt er. Riedl ist kein Esoteriker, sondern Diabetologe, Ernährungsmediziner. Als einer von drei „Ernährungs-Docs“ therapiert er in der gleichnamigen Sendung im Norddeutschen Rundfunk erfolgreich Patienten mit der Umstellung ihrer Ernährung.


Unter vielen Medizinern wird Fasten immer noch in der Alternativszene und der Komplementärmedizin verortet, so Riedl. Er selbst sei aber Schulmediziner. „Ich probiere natürlich auch mal Dinge aus. Alles, was ich tue, ist evidenzbasiert.“ Das Problem sei, dass die Studienlage zur Wirkung von Ernährung auf bestimmte Erkrankungen recht dünn sei. Vor allem fehle es an großen Studien, wie sie bei der Neuzulassung von Medikamenten durchgeführt werden. „Wir arbeiten mit Lebensmitteln“, erklärt er, „das ist ja nichts, was zugelassen werden muss. Wir können sie einfach ausprobieren und schauen, was sie bei den Patienten bewirken. Dann tun wir das bei anderen wieder und erkennen dann Muster. Es ist also reproduzierbar.“ Nicht bei allen Patienten, aber bei einem großen Teil. Im Fokus des Ernährungsmediziners stehen vor allem die so genannten Zivilisationskrankheiten: Bluthochdruck, Rheuma, Gicht oder Arthrose. Selbst bei der Remission von Diabetes, also Rückgang der Symptome bis hin zur Heilung der Erkrankung, habe er sehr gute Erfolge erzielt, sagt Riedl.


Aber welche Fastenmethode ist nun die richtige? Soll man vegane Monate einlegen, Abstinenzwochen, Saftfasten, Intervallfasten, Heilfasten über fünf, zehn oder gar 14 Tage? Diese Frage sei nicht entscheidend, findet Riedl. „Das Grundmodell der Ernährung ist artgerechte Ernährung. Jegliche Form des Fastens bedeutet, dass man Essenspausen macht. Der Mensch kann nicht ständig essen. In den allermeisten Jahren der Menschheitsgeschichte gab es keine Kühlschränke. Wenn man Hunger hatte, musste man sich sich etwas suchen. Es gab Zeiten des Überflusses und Zeiten des Mangels.“ Auf diesen ständigen Wechsel ist der Organismus von Menschen – im übrigen auch der vieler Tiere – ausgerichtet.


Das ständige Essen, auch Snacking genannt, sei ein großes Problem der Neuzeit. 60 Prozent der Deutschen, sogar 90 Prozent der US-Amerikaner, snacken immerzu, während der Arbeit, beim Lesen. Komme dazu noch eine Ernährung mit vielen Kohlenhydraten, sei man im „Epizentrum des Ungesunden“, so Riedl. Sie führe zu einem ständig hohen Blutzuckerspiegel und damit viel Insulin, das den Zucker in den Zellen anreichert und zu Fett umwandelt – nicht nur im Bauch, sondern auch in Organen wie Leber und Bauchspeicheldrüse. Vor allem die Bauchspeicheldrüse reagiere empfindlich auf Fett, sie sei schon bei einer Fettanreicherung von wenigen Prozent überlastet. „Und hier wären wir bei den Ursachen von Diabetes: Fettleber und eine Verfettung der Bauspeicheldrüse“, so Riedl.  


Eine Umstellung der Ernährung und Fasten kann solche Prozesse umkehren. Wichtig sei, dass sich der Mensch rhythmisiere: auf drei Mahlzeiten am Tag, besser sogar nur zwei. „In den vier bis fünf Stunden dazwischen haben der Darm und die Bauchspeicheldrüse Ruhe und die Reparaturmechanismen des Körpers springen an. Die nächste Stufe wäre dann das Intervallfasten, also 16 Stunden Pause zwischen den Mahlzeiten.  „Das ist dann noch wirksamer.“
Zudem hemmt Fasten nachweislich Entzündungen und senkt hohen Blutdruck. Das Fasten hat demnach eine antientzündliche Wirkung: Der Körper schüttet Stoffe aus, die entzündliche Vorgänge im Körper dämpfen können. Dazu kommt, dass sich über die Fastenzeit hinaus eine veränderte Einstellung zu Essen und Ernährung entwickeln kann.


Im Prinzip gibt Riedl also den Thesen des Fastenarztes Otto Buchinger recht. Er verweist auf die Reparaturmechanismen des Körpers, auch unter Autophagie bekannt, was auf Griechisch etwa „sich selbst essen“ bedeutet. Diese Zellreinigungsprozesse werden beim Fasten offenbar angeregt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass das Prinzip der Autophagie des Körper in der Lage sein könnte, gesunde Körperzellen vor einer Krebserkrankung zu schützen.


Fasten gegen den Krebs? Das ist eine vielleicht allzu optimistische Vermutung. Aber: Dass zu viel fettreiche, tierische Nahrung und andere Lebensstilfaktoren, die zu Diabetes, Bluthochdruck und Rheuma führen können, auch die Entstehung von Krebs begünstigen, ist erwiesen. Warum also sollte das Prinzip nicht umgekehrt gelten?

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