Herr Bonk, haben wir die Corona-Pandemie hinter uns?
Sicherlich nicht. In unserer globalisierten und sehr eng vernetzten Welt sollte man bei einem Pandemiegeschehen auch immer eine globale Perspektive einnehmen. Die meisten Länder haben weiterhin in sehr unterschiedlicher Ausprägung mit den hohen Krankheits- und Todeszahlen durch Corona, aber auch durch andere Erkrankungen, die durch die Pandemie zu wenig Aufmerksamkeit erhalten haben, sowie den gesellschaftlichen Folgen der Pandemie zu kämpfen. Zudem werden auch weitere Kollateralschäden der Pandemie wie die seelischen Gesundheitsprobleme, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sowie alleinstehenden Personen, immer deutlicher.
Hätten wir besser auf diese Pandemie vorbereitet sein können?
Eindeutig ja. Selbst Länder, die über gute Gesundheitssysteme und ausreichendes Personal sowie eine Notfallfinanzierung verfügen, und die die global verbindlichen Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO eingehalten hatten, haben teilweise eine desaströse Bilanz vorzuweisen. Wesentliche Gründe hierfür sind politisches Versagen, eine unflexible Bürokratie, Gesundheitssysteme, die viel zu wenig in Prävention und das öffentliche Gesundheitswesen investiert haben und natürlich auch das menschliche Verhalten, das insbesondere von Medien und sozialen Netzwerken mitgeprägt wurde. Ein Mangel an Vertrauen auf allen Ebenen hat all dieses zusätzlich befördert.
Sie waren Koordinator eines Expertengremiums, das herausfinden sollte, ob die WHO zu Beginn der Pandemie früher hätte Alarm schlagen müssen. Hätte sie?
Nein. Die Welt hat bereits seit Anfang Januar 2020 durch die Medien und auch die WHO die Entwicklungen in China und anderen Ländern quasi live und in Farbe verfolgen können. Es gab mehrere Expertentreffen, deren Ergebnisse veröffentlicht worden sind, und bereits am 30. Januar hat die WHO das Infektionsgeschehen als Public Health Emergency of International Concern deklariert. Das ist die höchste Warnstufe, die der Generalsekretär der WHO überhaupt ausrufen kann. Die Reaktion der WHO-Mitgliedstaaten darauf war dann eher verhalten. Die meisten haben mehr oder weniger abgewartet, bis die ersten Corona-Fälle in ihrer eigenen Bevölkerung aufgetreten sind. Erst als die WHO das Geschehen als Pandemie bezeichnet hat, wofür es noch nicht einmal eine genaue Definition gibt, begannen viele Länder, dann aber teilweise panikartig, zu reagieren.
Was haben wir aus der Corona-Pandemie gelernt?
Ich denke, dass viele Menschen erkannt haben werden, dass sie nicht nur für ihre eigene Gesundheit, aber auch für die Gesundheit ihrer Mitmenschen verantwortlich sind. Die meisten haben sich auch trotz großer Einschränkungen solidarisch und fürsorglich verhalten. Ob der Bereich der öffentlichen Gesundheit wirklich gefördert und damit die Prävention und Vorbereitung auf mögliche Pandemien wirklich die politische Aufmerksamkeit erhalten werden, wie es jetzt immer wieder betont wurde, bleibt abzuwarten. Zudem habe ich das Gefühl, dass die initial so hoch gelobten systemrelevanten Berufsgruppen schnell wieder vergessen worden sind. Ihnen zu danken, etwa durch bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, wäre nur fair.
Was wäre Ihr Rat an die Gesundheitspolitik?
Gerade in solchen Extremsituationen ist es besonders wichtig, eine gute Vertrauensbasis zwischen Politik und Gesellschaft zu haben. Diese muss sich natürlich über Jahre und durch einen hohen Grad an Transparenz aufbauen. Bereits im Vorfeld einer möglichen Krisensituation sollten auf der nationalen Ebene unabhängige Experten, insbesondere aus der Wissenschaft, aber auch aus der Zivilgesellschaft und Wirtschaft, ausgewählt u nd zu einer Expertenkommission zusammengestellt werden. Diese könnte dann frühzeitig und in einem transparenten Verfahren die politischen Entscheidungsträger zielgerichtet und zeitnah beraten.
Hat die Pandemie die WHO gestärkt oder geschwächt?
Trotz anfänglicher Probleme kann man der WHO bislang ein relativ gutes Zeugnis für den Umgang mit der Pandemie aussprechen, insbesondere da diese nur über ein eingeschränktes Mandat verfügt und ihre Mitgliedstaaten die Finanzierung und damit auch die Flexibilität und Reaktionsfähigkeit der Organisation seit Jahrzehnten einschränken. Die WHO hat insbesondere seit der Ebolakrise in Westafrika 2014/2015 sehr viel dazu gelernt und das Beste aus ihren Möglichkeiten gemacht. Sie ist deutlich transparenter und kommunikativer geworden, und mittlerweile tritt sie auch etwas selbstbewusster gegenüber ihren Mitgliedstaaten auf. Letzteres ist gerade jetzt notwendig, wo es dieses dramatische und zutiefst unsolidarische Ungleichgewicht bei der globalen Impfstoffverteilung gibt. Ich bin fest davon überzeugt, dass die WHO gestärkt aus dieser Pandemie herausgehen wird.
Ist die WHO die richtige Partnerin für globale Gesundheitspolitik?
Die WHO als multilaterale, sehr erfahrene und respektierte Institution ist meiner Ansicht nach alternativlos. Umso wichtiger ist es, dass die Mitgliedstaaten die WHO politisch stärken und finanziell unabhängiger auch von externen Geldgebern, wie etwa privaten Stiftungen, machen. Man darf in diesem Pandemiekontext natürlich nicht vergessen, dass die WHO mit ihren sechs Regional- sowie mehr als 150 Länderbüros, 800 Kollaborationszentren und unzähligen weiteren Programmen und Initiativen sich auch um alle anderen Krankheiten kümmert.