Auf Spurensuche

Menschen mit seltenen Erkrankungen fehlt es vor allem an Therapien und Medikamenten. Nun wird auf nationaler und europäischer Ebene nach Lösungen gesucht.
Illustration: Juliana Toro Suarez
Illustration: Juliana Toro Suarez
Julia Thiem Redaktion

Hollywood mag Geschichten, die das Leben schreibt – vor allem, wenn sie außergewöhnlich und selten sind. Im letzten Jahr hat das „Löwenmädchen“ mit ihrer tapferen Geschichte Kinobesucher verzaubert. Erzählt wird das Leben von Eva, die 1912 in einer norwegischen Provinzstadt mit einem seltenen Gendefekt zur Welt kommt und deshalb am ganzen Körper beharrt ist. Hypertrichose wird diese seltene Erkrankung genannt. Seit Anfang dieses Jahres ist nun Auggie der Held im Film „Wunder“. Er leidet unter dem Treacher-Collins-Syndrom, das sich durch Fehlbildungen an Gesicht und Hals kennzeichnet. Sein Lieblingsaccessoire ist deshalb ein Astronautenhelm, den er trägt, sobald er das Haus verlässt.

Was beide Filme sehr gut widerspiegeln, sind die unzähligen Herausforderungen, vor denen die Betroffenen und ihre Familien tagtäglich stehen. Und diese Filme bringen Aufmerksamkeit – für ein Thema, dem weder in der Öffentlichkeit noch in Wissenschaft und Forschung bisher Genüge getan wird. Auch heute haben viele Patienten mit seltener Erkrankung bereits eine regelrechte Odyssee hinter sich, bis sie endlich eine Diagnose bekommen. Denn Hypertrichose oder das Treacher-Collins-Syndrom sind nur zwei der derzeit rund 8.000 bekannten seltenen Erkrankungen. Das heißt, dass unter jeder einzelnen seltenen Erkrankung zwar nur wenige Patienten leiden – per Definition weniger als fünf von 10.000 Menschen –, allein in der europäischen Gemeinschaft aber schon insgesamt etwa 30 Millionen Menschen betroffen sind.

Rund 80 Prozent der seltenen Erkrankungen haben einen genetischen Ursprung, sind chronisch und zum Teil lebensbedrohend. Es gibt aber auch seltene Infektionskrankheiten, Formen von Autoimmun-Störungen oder seltene Krebserkrankungen die unter die Definition fallen. Besonders häufig trifft es aufgrund des genetischen Ursprungs Kinder, weshalb seltene Erkrankungen auch als Orphan Diseases bezeichnet werden.

Das fatale für die Patienten, sind die wenigen Erkenntnisse, die Medizin und Wissenschaft auch heute noch über viele der Krankheiten selbst, ihre Entstehung oder ihren Verlauf haben. Ein aktueller Bericht der EU-Kommission bestätigt, dass derzeit erst ein Prozent der rund 8.000 seltenen Erkrankungen auch medikamentös behandelbar ist. Es muss also dringend in die Forschung investiert werden, um mehr Menschen helfen zu können. Wichtige Impulse kommen hier vor allem von den Patientenorganisationen. In Deutschland ist es die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen – kurz Achse e.V. –, die sich als Netzwerk aus Betroffenen, Förderern, Ärzten und Beratern aus dem Gesundheitswesen für ein besseres Leben der Betroffenen einsetzt. Auf europäischer Ebene ist es die Europäische Organisation für Seltene Erkrankungen (EURORDIS), zu der knapp 800 Patientenorganisationen aus 69 Ländern gehören und die sich vor allem durch Lobbyarbeit auf EU-Ebene für die Patienten stark macht.

Und auch die EURORDIS fordert in einem Positionspaper vor allem besseren Zugang zu kompletten und schnellen Therapien. „Wenn es um Zugang zu Medikamenten geht, akzeptieren wir kein Nein als Antwort“, betont Yann Le Cam, Vorstandsvorsitzender von EURORDIS. „Wir müssen die Kluft zwischen Innovation und tatsächlichem Zugang schließen. Alle Interessensvertreter haben eine dringende gemeinsame Verantwortung, einen neuen Ansatz zu gestalten, der die Übersetzung entscheidender wissenschaftlicher Fortschritte in neue Behandlungen beschleunigt.“

Und solch wissenschaftliche Fortschritte gibt es viele. Denn dank neuer diagnostischer Möglichkeiten wächst insbesondere das Wissen im Bereich der Genetik rasant. Das Ergebnis ist beispielsweise die personalisierte Medizin, die versucht, genetische, molekulare und auch zelluläre Besonderheiten eines Patienten zu erfassen, um daraus Rückschlüsse ziehen zu können, ob eine spezielle Therapie infrage kommt. Aber auch die Neurogenetik macht deutliche Fortschritte. Dabei handelt es sich um ein Fachgebiet der Neurobiologie mit dem Ziel, Gene und die Mechanismen ihrer Wechselwirkungen herauszuarbeiten, die für die Entwicklung, Funktion und Leistung des Nervensystems von Bedeutung sind. Denn die große Mehrheit seltener Erkrankungen hat eine Beteiligung des Nervensystems – etwa die als ALS bekannte Amyotrophe Lateralsklerose, an der auch Stephen Hawking erkrankt war. Dass er so lange mit dieser seltenen Erkrankung überlebt hat, ist äußerst ungewöhnlich. Denn die meisten Patienten sterben schon innerhalb weniger Jahre nach der Diagnose. Was an ALS außerdem bezeichnend ist: Die degenerative Nervenerkrankung ist seit mehr als 100 Jahren bekannt. Allerdings gibt es bis heute keine Therapie, die die Betroffenen vor der Atemlähmung schützt, an der die meisten mit Fortschreiten von ALS sterben.

Deshalb ist es so wichtig, Forschung im Bereich seltener Erkrankungen zu unterstützen und zu fördern. Das ist auch das Ziel der Dr. Holger Müller Stiftung, die gemeinsam mit der Care-for-Rare Foundation seit 2011 jährlich den Dr. Holger Müller Preis auslobt. Der richtet sich an interdisziplinäre und international ausgerichtete wissenschaftliche und klinische Projekte, die einen Beitrag zur Aufklärung der Krankheitsursachen und zur Entwicklung innovativer Therapien für Kinder mit seltenen Erkrankungen leisten.

In Deutschland widmet sich außerdem ein eigenes Projekt mit der defizitären Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen. TRANSLATE-NAMSE wird seit Ende 2016 aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert. Das Ziel: Eine bessere Versorgung für die Patienten. Hierfür werden seit Anfang Dezember einzelne zentrale Maßnahmenvorschläge aus dem nationalen Aktionsplan für drei Jahre im Rahmen von TRANSLATE-NAMSE bundesweit umgesetzt und in Hinblick auf eine Übernahme in die Regelversorgung erprobt. Die nationalen Aktionspläne hat übrigens die EU ihren Mitgliedsstaaten verordnet. Es tut sich also derzeit einiges für Patienten mit seltenen Erkrankungen – auch wenn es für jeden einzelnen vermutlich noch viel zu wenig ist.

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