Herr Prof. Bromme, früher kam der Patient mit Beschwerden zum Arzt, heute kommt er oft schon mit einer Selbstdiagnose aus dem Internet. Wie fundamental hat sich dadurch die Sprechstunde verändert?
Eigene Vermutungen zu Ursachen oder Ideen für Therapien haben Patienten schon immer mitgebracht, das ist nichts Neues. Viele haben eine persönliche Krankheitsgeschichte oder kennen ähnliche Fälle aus ihrem Umfeld. Der Unterschied ist, dass ihnen heute durch das Internet eine Fülle zusätzlicher Informationen zur Verfügung steht – sowohl korrekte als auch fehlerhafte. Das Positive daran ist, dass Patienten nun Zugang zu deutlich mehr seriösen medizinischen Informationen haben. Für Ärzte bedeutet das aber auch, dass sie sich intensiver mit diesen Informationen auseinandersetzen müssen. Nicht nur, weil sich die Patienten damit beschäftigen, sondern auch, weil sie tatsächlich behandlungsrelevant sein können.
Was macht es mit der ärztlichen Autorität, wenn Patienten mit Studien aus PubMed oder ChatGPT-Analysen ihrer Symptome in die Praxis kommen?
In einer 2023 in der Fachzeitschrift „Jama Internal Medicine“ veröffentlichten Studie haben Forscher die Antworten von Ärzten auf medizinische Fragen in den sozialen Medien mit denen von ChatGPT verglichen. Das Ergebnis: Die Antworten von ChatGPT waren nicht nur durchweg länger, sondern wurden auch als fachlich besser und empathischer beurteilt. Studien aus PubMed sind ohnehin fachlich geprüft. Trotzdem bleibt die ärztliche Expertise aus zwei Gründen gefragt: Erstens gibt es einen riesigen Unterschied zwischen der Aussagekraft von Studienergebnissen, die unter sehr kontrollierten Bedingungen zustande gekommen sind, und der Komplexität einer persönlichen Erkrankung. Zweitens sind die Ergebnisse aus ChatGPT oder PubMed nicht unmittelbar verständlich; ihre Deutung setzt oft weiteres Fachwissen voraus. Dabei ist die Fachterminologie noch nicht einmal das größte Problem, da man sich Fachbegriffe durch Rückfragen auch übersetzen und umschreiben lassen kann. Die Übertragung auf den persönlichen Fall erfordert jedoch ärztliche Kompetenz. Die ärztliche Autorität muss sich also neu definieren: Anstatt nur Wissen zu vermitteln, müssen Ärzte als kompetente Beurteiler und Anwender der verfügbaren digitalen Informationen auftreten. Ein Vorteil von Systemen wie ChatGPT ist, dass sie bei präzisen Fragestellungen sehr umfassende Antworten liefern können, etwa indem sie mögliche Differentialdiagnosen auflisten. Andererseits halluzinieren die Systeme manchmal und präsentieren falsche Informationen als Fakten. Hier müssen Ärzte als Filter fungieren.
Ist der informierte Patient ein Segen oder eine zusätzliche Belastung für das ohnehin schon überlastete Gesundheitssystem? Wo liegt die Grenze zwischen mündig und überinformiert?
Die Antwort hängt sehr stark davon ab, wie das Gesundheitssystem mit informierten Patienten umgeht. Problematisch ist die Vorstellung, dass Patienten nur dann mündig sind, wenn sie nicht zu detailliert informiert – „überinformiert“ – sind. Diese Grundannahme, die möglicherweise von einigen Ärzten geteilt wird, erschwert die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten. Wichtig ist, dass Ärzte auf ihrer fachlichen Autorität bestehen, gleichzeitig aber das Bemühen der Patienten würdigen und akzeptieren, ihre Erkrankung zu verstehen. Gleichzeitig gilt: Betrachtet man realistisch die Zeit, die Ärzte, sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Versorgung, durchschnittlich für die Kommunikation mit Patienten haben, Studien zeigen hier meist nur wenige Minuten, mit positiven Ausnahmen etwa in der Onkologie, wird deutlich, dass es insgesamt eher positiv ist, wenn Patienten sich zusätzlich informieren.
Welche Kommunikationstechniken empfehlen Sie Ärzten im Umgang mit „Dr. Google“-Patienten?
Es geht darum, die eigene fachliche Autorität klar zu wahren und gleichzeitig die Bemühungen der Patienten um Informationen wertzuschätzen – auch wenn diese Informationen von dritter Seite stammen. Ärzte sollten sich bewusst machen, dass sie nur eine Stimme in dem Chor sind, den Patienten hören, und dies nicht persönlich nehmen, sondern als Herausforderung verstehen. Wenn Patienten sich zum Beispiel anderweitig informieren, aber nicht den Mut haben, dies ihrem Arzt mitzuteilen, kann das ein Hinweis auf ein problematisches Kommunikationsverhalten sein.
KI-basierte Diagnosehilfen werden immer besser. Müssen sich Ärzte Sorgen machen, dass Patienten irgendwann der Maschine mehr vertrauen als dem Menschen?
Nein, diese Sorge ist unbegründet. Eine aktuelle Studie, die in der medizinischen Fachzeitschrift „Jama Network Open“ veröffentlicht wurde und in der die Einstellung der Patienten zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin untersucht wurde, zeigt insgesamt eine zurückhaltende, vorsichtige Haltung der Patienten.
Brauchen wir eine Art „digitale Gesundheitskompetenz“ – und wer soll sie vermitteln?
Eine isolierte digitale Gesundheitskompetenz halte ich nicht für sinnvoll. Entscheidend ist Medienkompetenz. Also die Fähigkeit, vertrauenswürdige von weniger vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden. Diese Medienkompetenz sollte unter anderem im allgemeinbildenden Schulsystem vermittelt und eingeübt werden. Medienkompetenz ist jedoch nie inhaltsleer. Sie ist immer verzahnt mit bestimmten Themen wie beispielsweise Gesundheit, Politik oder Wirtschaft und setzt deshalb auch immer Fachwissen in diesen Bereichen voraus – und ein Verständnis dafür, woran man seriöse Experten erkennt.