Mehr als nur ein Schnupfen

Angeborene Immundefekte zählen zu den Seltenen Erkrankungen und beeinträchtigen das Leben von Kindern erheblich. Register mit Falldaten unterstützen bei Diagnose und Therapie.

Dr. Stephan Ehl, Institutsdirektor am Centrum für Chronische Immundefizienz der Universitätsklinik Freiburg
Dr. Stephan Ehl, Institutsdirektor am Centrum für Chronische Immundefizienz der Universitätsklinik Freiburg
Pharming Group Beitrag

Wenn ein Kind deutlich häufiger an Infektionen leidet, diese schwerer verlaufen oder von ungewöhnlichen Erregern ausgelöst werden, kann das Anlass zur Sorge geben: Möglicherweise liegt ein genetischer, also angeborener Immundefekt vor, der das Immunsystem schwächt. Solche Immundefekte zählen zu den Seltenen Erkrankungen, mehr als 500 sind mittlerweile bekannt. Wie bei den meisten „Seltenen“ ist die Diagnose in der Regel langwierig, doch genetische Immundefekte weisen eine besondere Tücke auf: „Die Grundkrankheit Immundefekt ist selten, aber die Krankheitserscheinungen, Infekte, sind häufig. Deshalb dauert es oft Jahre, bis bei Kindern, die scheinbar normal geboren sind, ein Immundefekt entdeckt wird“, erklärt Prof. Dr. Stephan Ehl, Institutsdirektor am Centrum für Chronische Immundefizienz der Universitätsklinik Freiburg. Es geht um mehr als nur Schnupfen: Infektionen können den ganzen Körper betreffen, von der Lunge über das Herz bis zum Nervensystem. Neben der körperlichen Bedrohung kann das noch andere Konsequenzen haben: Entwicklungsverzögerungen, seelische Not, soziale Isolation, verpasste schulische Chancen. Hinzu kommt die Belastung für die Angehörigen.
 

REGISTER SAMMELN WISSEN


Noch etwas macht die Diagnose eines genetischen Immundefekts so schwierig: „Betroffene mit wiederholten Lungenentzündungen, Infektionen im Hals-Nasen-Ohren-Bereich oder häufigen Durchfallerkrankungen gehen damit oft zum Spezialisten. Dort wird oft nur die jeweilige Krankheit behandelt ohne nach zugrundeliegenden Faktoren zu sehen“, so Stephan Ehl. Wichtig sei aber, die gesamte Krankengeschichte der Kinder abzufragen, entsprechend zu dokumentieren – und vor allem, diese Daten mit denen anderer Betroffener vergleichen zu können. Genau das können Register schaffen, wie etwa das Europäische Immundefektregister, das in Deutschland Falldaten zu seltenen Immundefekten sammelt. Dazu gehören zum Beispiel die Art der Symptome und wann sie zuerst auftraten, der Verlauf der Erkrankung, aber auch Laborwerte und welche Therapien eingesetzt wurden. Stephan Ehl: „Mit diesen Daten können wir den natürlichen Verlauf dieser Erkrankungen mit und ohne therapeutische Eingriffe dokumentieren.“
 

GEWISSHEIT FÜR BETROFFENE


Das Register dient nicht nur als Plattform zum Austausch zwischen Fachpersonal. Über das Register können Betroffene auch Zugang zu Selbsthilfegruppen bekommen. Forschende Pharmaunternehmen können die Datensätze nutzen, um Probanden für Medikamente in einer späten Testphase zu gewinnen – natürlich nur mit deren Einverständnis. Für breit angelegte Studien ist das Register allerdings nur bedingt geeignet. Neben der nicht immer vergleichbar vollständigen Dokumentation sind die Fallzahlen naturgemäß oft zu niedrig. Nicht nur deswegen ist die Vernetzung mit Datenbanken aus anderen Ländern so wichtig. Sie erweitert die Datenbasis und damit das Wissen um einen bestimmten genetischen Immundefekt. „Das Register hilft, Betroffenen endlich Gewissheit über den Krankheitsverlauf zu verschaffen und den Behandelnden Therapieoptionen aufzuzeigen“, so Stephan Ehl.

Gabriele Gründl, Gründerin der dsai e.V.
Gabriele Gründl, Gründerin der dsai e.V.
Andrea Maier-Neuner, dsai-Geschäftsführerin
Andrea Maier-Neuner, dsai-Geschäftsführerin

EIN IMMUNDEFEKT IST NICHT DAS ENDE EINES ERFÜLLTEN LEBENS


Die Patientenorganisation „Deutsche Selbsthilfe Angeborene Immundefekte e.V.“ unterstützt Betroffene eines angeborenen Immundefektes und deren Angehörige.
 

Frau Gründl, was war Ihre Motivation, vor 30 Jahren die dsai zu gründen?

Gabriele Gründl: Meine Motivation, die dsai ins Leben zu rufen, war eine ganz persönliche. Mein eigenes Kind erhielt die Diagnose eines angeborenen Immundefekts. Als Mutter war es für mich ein Schock, aber auch ein Antrieb. Ich wollte nicht nur meinem Kind helfen, sondern auch anderen Betroffenen und deren Familien. Mir wurde schnell klar, wie wichtig frühzeitige Information, Austausch und Unterstützung in einer solchen Situation sind. So entstand die Idee zur dsai, der deutschen Patientenorganisation für angeborene Immundefekte.
 

Was leistet die dsai?

Andrea Maier-Neuner: Die dsai ist eine zentrale Anlaufstelle für Menschen mit angeborenen Immundefekten. Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, Betroffene mit denselben Erkrankungen zu vernetzen. Dazu nutzen wir eine speziell entwickelte Software, die Betroffene nach Krankheitsbild, Wohnort oder Therapieform filtert und zusammenführt. Der Austausch mit anderen, die dieselben Herausforderungen erleben, gibt Vielen Kraft.

Außerdem bieten wir fundierte Beratung und stellen Kontakte zu spezialisierten Ärzten her. Die Aufklärung der Ärzteschaft ist uns ebenfalls ein Anliegen. Durch gezielte Information und Sensibilisierung möchten wir dazu beitragen, dass Betroffene früher eine Diagnose und damit eine passende Therapie erhalten. Wir organisieren auch regelmäßige Patientenstammtische und Austauschwochenenden – sowohl in Präsenz als auch digital. So ermöglichen wir den Betroffenen, sich gegenseitig zu unterstützen und wertvolle Tipps für den Alltag zu erhalten. Ein weiteres zentrales Thema ist die Bedeutung von Blutplasmaspenden. Viele Immundefekte lassen sich nur durch Immunglobulin-Präparate behandeln, die aus gespendetem Blutplasma gewonnen werden. Daher setzen wir uns intensiv für mehr Aufklärung und eine höhere Spendenbereitschaft in der Bevölkerung ein. Blutplasma kann nicht synthetisch hergestellt werden – wir sind also auf Spender angewiesen, um das Leben vieler Patienten zu sichern. 
 

Gibt es eine zentrale Botschaft aus Ihrer Erfahrung mit den Patientenbedürfnissen?

Gabriele Gründl: Ja, und die lautet: Jeder Betroffene hat das Recht auf eine frühzeitige Diagnose und eine adäquate Behandlung. Wir erleben oft, dass Patienten jahrelang auf der Suche nach einer Erklärung für ihre Beschwerden sind. Das muss sich ändern.
Andrea Maier-Neuner: Und wir möchten den Menschen Hoffnung geben. Ein Immundefekt bedeutet nicht das Ende eines erfüllten Lebens. Mit der richtigen Therapie und Unterstützung können Betroffene ein gutes Leben führen. Dafür setzen wir uns mit voller Kraft ein.

Unser Appell an alle: Wenn Sie oder jemand in Ihrem Umfeld ständig an schweren Infekten leidet, denken Sie an die Möglichkeit eines Immundefekts und lassen Sie sich beraten. Die dsai ist für alle da – Betroffene, Angehörige und Interessierte.
 

Seltene Krankheiten – der Podcast

Der Podcast „Diagnose-Kompass Seltene Erkrankungen“ (siehe QR-Code) steht unter der Schirmherrschaft der Deutschen Selbsthilfe Angeborene Immundefekte e.V. mit Unterstützung der _fbeta GmbH im Auftrag der Pharming Group N.V.

www.pharming.com 
www.dsai.de

 

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