Jagd nach dem letzten Partikel

Reinräume sind anspruchsvolle Einrichtungen, um Pharma- und Medizinprodukte herzustellen. Die technischen Anforderungen sind enorm, streng die Verhaltensregeln und Prozesse.

Illustrationen: Olga Aleksandrova
Illustrationen: Olga Aleksandrova
Axel Novak Redaktion

Alzey im Frühjahr 2025: Schweres Gerät und Rammen markieren das Feld. Hier, kaum einen Kilometer von der Autobahn A62 errichtet der Pharmakonzern Eli Lilly eine gigantische Produktionsstätte. 2,3 Milliarden Euro steckt der US-Konzern in das Werk, 30 Hektar Fläche werden für eine gigantische Abfüllanlage für Medikamente und Injektionshilfen überbaut.

Größer könnte der Unterschied zwischen Natur draußen und keimfreien Bedingungen drinnen kaum sein: Mitten im sanft geschwungenen Rheinhessen entsteht ein steriler Reinraum der Klasse C. 

Ein solcher Reinraum ist ein speziell konstruierter Funktionsraum, der hermetisch von seiner Umgebung abgeschlossen ist. So bleibt der Raum frei von Partikeln, die die medizinischen Produkte verunreinigen könnten. Die Luft in einem solchen Raum ist bis zu 50.000 Mal sauberer als die normale Umgebungsluft. Wie außergewöhnlich das ist, verdeutlicht Gernod Dittel, Vorsitzender des Deutschen Reinraum-Instituts, in einem Interview mit der ZEIT: „Stellen Sie sich vor, das Wasser des Bodensees ist hochrein wie in einer Pharmafabrik. Jetzt nehmen Sie, sagen wir, hundert Murmeln und werfen sie in den Bodensee. Dann ist die Kontamination mit Murmeln im See schon höher, als Bakterien und Staubteilchen in der Luft einer pharmazeutischen Produktionsanlage zugelassen sind.“ Wegen dieser enormen Anforderungen kosten Reinräume viel Geld, je nach Größe und Reinheitsgrad zwischen 50.000 und mehreren hundert Millionen Euro.

Ein Reinraum ist das Herzstück eines komplexen Funktionskonzeptes: Baukonstruktion, Rohstoffe, Bauteile, Werkzeuge, Mobiliar und Hilfsmittel müssen höchsten Reinheitsanforderungen genügen. Ein Neubau, wie ihn Eli Lilly plant, kann sich durchaus lohnen, um das hochfunktionale Gebäude genau zu planen. Anders sieht es beim Umbau eines bestehenden Gebäudes aus: „Hier ist die erste und aus der Erfahrung auch mit die wichtigste ‚Klippe‘ nämlich die richtige Wahl des Gebäudes und des Standortes eines Reinraumes. Dies entscheidet oft über Erfolg oder Misserfolg des Projektes, bevor es überhaupt startet“, so Dirk Steil, Geschäftsführer der Becker Reinraumtechnik in einem Beitrag für das Netzwerk CleanRoomNet. 

Reinräume in der Pharmaindustrie werden nach einer von vier GMP-Klassen definiert – anders als im Maschinen- und Anlagenbau, wo ISO-Vorschriften die zulässige Partikelanzahl pro Kubikmeter Luft regeln. Der Grund ist einfach: Schon kleinste Partikel können Produkte verunreinigen, zerstören oder – bei medizinischen Anwendungen – das Leben von Patienten gefährden. In Reinräumen für die aseptische Abfüllung dürfen deshalb nicht mehr als 3.520 Partikel pro Kubikmeter Luft vorhanden sein – mit einer maximalen Größe von einem halben Mikrometer. Zum Vergleich: Manche Bakterien sind wenige Mikrometer groß, menschliche Haare bis zu 100 Mikrometer dick.

Deshalb müssen zum Beispiel Impfstoffe unter sterilen Bedingungen hergestellt werden: Der geforderte Sterility Assurance Level (SAL) von 10-6 bedeutet, dass unter einer Million sterilisierter Kanülen rechnerisch höchstens eine nicht vollständig steril ist. Diese Partikelfreiheit kann nur gewährleistet werden, wenn die Räume rund um die Uhr mit Partikelzählern überwacht werden, die mögliche Partikel mit Laserstrahlen aufspüren. Zudem wälzen mehrstufige Lüftungsanlagen ständig riesige Luftmengen durch Filter. Im größten Reinraum der Welt, dem NASA-Reinraum im Goddard Space Flight Center, filtert beispielsweise eine ganze Wand 28.000 Kubikmeter Luft pro Minute.
 

»Die Luft in einem Reinraum der Klasse C ist bis zu 50.000 Mal sauberer als die normale Umgebungsluft.«


Ein weiteres einfaches, aber wirkungsvolles Mittel zur Partikelreduktion ist ein Überdruck im Raum: So kann keine verunreinigte Luft von außen eindringen. Allerdings können auch Partikel nach außen gelangen. Beim Umgang mit Gefahrstoffen oder Krankheitserregern wird dagegen mit Unterdruck gearbeitet, um eine unkontrollierte Ausbreitung zu verhindern. Innerhalb eines Reinraumes können durch gezielte Luftführung und Luftschleier Arbeitsbereiche mit noch höheren Reinheitsanforderungen abgegrenzt werden.

Auch die verwendeten Materialien müssen besondere Eigenschaften aufweisen. Der Boden besteht meist aus PVC, Reaktionsharz oder Fliesen und muss abriebfest und rissfrei sein. Alle verwendeten Materialien und Arbeitsmittel dürfen keine Partikel abgeben und die vorhandenen Luftströmungen nicht beeinträchtigen. Gegenstände gelangen in doppelter Verpackung hinein. Die erste Verpackung wird im Vorraum entfernt, die zweite im Reinraum. Herkömmliches Wischen und Putzen kann zusätzliche Partikel freisetzen. Es werden spezielle, nicht fusselnde Tücher und Reinigungswagen aus abriebfestem Edelstahl verwendet. Desinfektions- und Reinigungsmittel stammen idealerweise vom selben Hersteller, um chemische Wechselwirkungen zu vermeiden, die die Wirksamkeit beeinträchtigen könnten. Eli Lilly will in Alzey mit Isolatoren und der VHP-Technologie arbeiten. Diese Dekontaminationsmethode mit gasförmigem Wasserstoffperoxid gilt als Stand der Technik in der Sterilisation.

Natürlich sind Reinräume auch eine Herausforderung für die Energieversorgung. Denn Filterlüfter und Klimaanlagen laufen im Dauerbetrieb und verbrauchen viel Strom. Optimierte Filter, moderne Klimaanlagen und intelligente Steuerungssysteme sind daher für einen effizienten Betrieb notwendig. 

Die größte Gefahr für die Hygiene im Reinraum aber ist der Mensch. Deshalb dürfen nur wenige, besonders geschulte Mitarbeiter mit spezieller Schutzkleidung einen Reinraum betreten. Handtaschen, Plastiktüten, Mobiltelefone, Uhren und Schmuck sind ebenso verboten wie Speisen und Getränke. Oft müssen sich Mitarbeiter und Besucher vor Betreten des Raumes einer zusätzlichen Reinigung unterziehen.

Auch Verhaltensregeln sind wichtig: Im Reinraum sind schnelle, ruckartige Bewegungen zu vermeiden, die Partikel aufwirbeln könnten. In Reinräumen der höchsten Klasse sind Menschen gar nicht mehr zugelassen. Roboter sind wesentlich hygienischer.

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