Wenn es beim Handball, Basketball oder generell im Sport kurz vor Schluss Spitz auf Knopf steht, beginnt die Crunchtime. Es sind die entscheidenden Minuten der Begegnung, die darüber entscheiden, ob ich das Spielfeld als Sieger oder Verlierer verlasse, ob alle bisherigen Anstrengungen erfolgreich oder letztlich nutzlos waren. Es sind die Momente, in denen völlig egal ist, was vorher geschah. Jetzt und hier muss geliefert werden, sonst ist das Spiel verloren.
Transparenzgesetz, Krankenhausreformgesetz, Start des Online-Atlas für Kliniken – bis zum Mai folgen jetzt die entscheidenden Tage, die Crunchtime für die deutsche Gesundheitspolitik. Man sollte mit großen Worten immer behutsam umgehen. Aber wenn es tatsächlich gelingen sollte, innerhalb dieses Zeitraums die Eckpunkte für eine zukunftsfeste Gesundheitsversorgung vor allem im Krankenhaussektor zu verabschieden, dann sind dies in der Tat Erfolge, die man als historisch bezeichnen kann. Ausgerechnet das traditionell versteinerte, apathische, reformunwillige Gesundheitswesen könnte tatsächlich eine Blaupause zur gesellschaftlichen Veränderung liefern. Es wäre ein Signal, dass unser Land nicht gänzlich die Fähigkeit zur Erneuerung und Problemlösung verloren hat. If you can make it there, you can make it anywhere. Gerade angesichts des aktuellen, höchst deprimierenden Jahreswirtschaftsberichtes wäre die Modernisierung der Gesundheitsversorgung ein Kontrapunkt, der Hoffnung und Zuversicht schafft. Ist bei einem positiven Verlauf der nächsten Wochen – und danach sieht es nach der Zustimmung zum Transparenzgesetz im Vermittlungsausschuss derzeit aus – dann alles gut? Natürlich nicht. Dafür ist das Gesundheitssystem als komplexestes System der Daseinsvorsorge viel zu heterogen, zu undurchschaubar, von zu vielen Partikularinteressen durchzogen. Die jahrzehntelange Agonie hat eine teure, zunehmend ineffiziente, mittlerweile sogar teilweise dysfunktionale Gesundheitsversorgung entstehen lassen, deren Auswirkungen immer ungefilterter beim Bürger ankommen. Die Gegenleistung für steigende Krankenkassenbeiträge besteht zusehends in überlasteten Arztpraxen und Notaufnahmen, in Medikamentenmangel, einem desaströsen Grad der Digitalisierung, in Überlastung bei den Beschäftigten und genervten Patienten. Die Solidargemeinschaft ist nur noch begrenzt leistungsfähig.
Und bei dieser Bestandsaufnahme sind die wirklich dramatischen Auswirkungen des demographischen Wandels noch gar nicht enthalten. Den Pflegenotstand – im Grunde ein verfestigter Fachkräftemangel – hat spätestens seit Corona jeder registriert. Aber wer weiß schon, dass allein im letzten Jahr fast 800 Pflegeeinrichtungen schließen mussten? Oder dass das Gesundheitssystem sich eben nicht selbst trägt, sondern jedes Jahr mit rund 15 Milliarden Euro Steuergeldern gestützt werden muss? Man mag sich nicht vorstellen, wie dies alles in 10 oder 15 Jahren funktionieren soll. Wie in vielen anderen gesellschaftspolitischen Feldern gilt auch für die Gesundheit: Die zurückliegenden guten Jahre wurden eben nicht genutzt, um Vorsorge zu treiben. Stattdessen wurde die Zukunft verfrühstückt. Strukturprobleme wurden nach bewährtem deutschen Muster nicht gelöst, sondern mit Geld zugekleistert.
Spät, aber noch nicht zu spät besteht jetzt die einmalige Gelegenheit zum Gegensteuern. Ich hatte bereits Ende 2022, als Minister Lauterbach seine aufeinander aufbauenden Gesetzesvorhaben zur Modernisierung vorstellte, gesagt, dass der Weg richtig sei, der Prozess aber schwerwiegende Web- und Geburtsfehler enthält. Es fehlt nach wie vor eine übergeordnete Gesamtstrategie, ein Masterplan für das gesamte, hochkomplexe und untrennbar miteinander verwobene Gesundheitssystem. Und sicherlich war es unklug, bei der Krankenhausreform die für die Krankenhausplanung zuständigen Länder nicht von vornherein ganz eng einzubinden. Dies hätte zu Beginn ein wenig Zeit und Aufwand gekostet, der sich mittlerweile um ein Vielfaches amortisiert hätte.