Mehr als 2000 Kinder und Jugendliche erhalten pro Jahr erstmals die Diagnose „Krebs“. Dank moderner Therapien können heute rund 80 Prozent geheilt werden. Allerdings erleiden etwa 20 Prozent der Betroffenen nach einer intensiven Strahlen- oder Chemotherapie einen Rückfall oder haben eine schlechte Prognose. Für sie gab es bisher zu wenig passende und erprobte Medikamente und Therapien. Das liegt auch daran, dass Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen viel seltener sind als bei Erwachsenen, was die Forschung erschwert und oft auch das Interesse daran lähmt.
Hier setzt das europaweite Projekt INFORM, Individualized Treatment For Relapsed Malignancies in Childhood, an. Durch individuell auf sie zugeschnittene Behandlungen sollen die jungen Patientinnen und Patienten künftig bessere Chancen haben, auch nach einem Rückfall gesund zu werden oder zumindest mit ihrer Erkrankung leben zu können. Seit etwa zehn Jahren arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am INFORM-Projekt. Fast 60 Zentren aus Deutschland sowie zehn weitere Länder in Europa und Israel sind beteiligt. Federführend ist das Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg, kurz KiTZ, eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) und der Universität Heidelberg.
STUDIE NUTZT GENOMSEQUENZIERUNG
INFORM ist eine Registerstudie auf Basis einer Genomsequenzierung, einer Analyse des Erbguts. Es geht darum, anhand von Tumormaterial, genetische Veränderungen zu identifizieren, die bestimmte Krebserkrankungen auslösen können. Konkret bedeutet das, Kinderonkologen und Onkologinnen schicken Proben bestehend aus dem Tumorerbgut ihrer Patienten und Patientinnen zum Zeitpunkt des Rückfalls an das KiTZ. Dort werden diese molekular analysiert, um die Eigenschaften der Tumoren zu bestimmen. Als Biomarker, die auf eine Krebserkrankung hinweisen, können sich zum Beispiel Proteine erweisen, bestimmte Gene oder Moleküle. Die im KiTZ gewonnenen Daten werden anschließend klinisch ausgewertet. Ärzte, Ärztinnen und Forschende aus mehreren europäischen Ländern entscheiden anhand der Ergebnisse über weitere, individuelle Behandlungsmöglichkeiten jenseits der Standardtherapien. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen können anhand der Daten eventuell klinischen Studien zugeordnet werden oder es wird geprüft, ob sie unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen eine Behandlung mit Wirkstoffen erhalten könnten, die für Erwachsene schon zugelassen sind. In den USA ist es bereits Pflicht, bei Krebsmedikamenten für Erwachsene vor der Zulassung zu prüfen, ob diese auch betroffenen Kindern helfen könnten. Eine ähnliche Regelung wird für die EU überlegt.
ZIELGERICHTETE THERAPIEN GEGEN KREBS
Durch Genomanalysen werden neue Angriffspunkte für eine molekulare zielgerichtete Therapie erkennbar. Die weitere Forschung kann eventuell auch zeigen, ob eine individualisierte Therapie für Patienten und Patientinnen mit spezifischen molekularen Veränderungen grundsätzlich besser wirkt als die Standard-Therapien. Ziel der Arbeit am KiTZ ist es, künftig für alle betroffenen Kinder eine Analyse ihres individuellen Tumors zu gewährleisten und für jeden Tumortyp eine maßgeschneiderte Therapie zu finden.
Das INFORM Projekt ermöglicht es darüber hinaus, Medikamente an Tumoren zu testen, die zuvor aus Tumorproben der Patienten und Patientinnen im Labor gezüchtet wurden. Die Testungen helfen nicht nur, passende Wirkstoffe zu finden, sondern sollen auch dazu beitragen, unnötige Behandlungen schon im Vorfeld zu erkennen und auszuschließen.
Schon jetzt sind etwa 1700 junge Patienten und Patientinnen im INFORM-Register erfasst. Im Laufe der Jahre ist eine riesige Datenbank mit Informationen zu den Eigenschaften von Tumoren entstanden. Diese kann von weiteren Forschungsgruppen genutzt werden. Tumoren bei Kindern haben in der Regel weniger Mutationen als die von Erwachsenen. Dadurch wird es leichter, kritische Veränderungen zu identifizieren und mit einem passenden Medikament zu verbinden. Erfahrungen und Ergebnisse aus der INFORM-Studie sollen darüber hinaus später auch der Planung ähnlicher Studien bei Erwachsenen zugutekommen.
Eine weitere große Hoffnungen für die Behandlung von Krebserkrankungen bei Kindern liegt auf der Immuntherapie. Einen Teil der Chemotherapie bei einigen Krebsarten durch Impfungen zu ersetzen, die mit deutlich weniger Nebenwirkungen und einem geringeren Risiko für Rückfälle verbunden sind, ist ein zusätzliches anspruchsvolles Ziel der modernen Krebsmedizin.
IMMUNTHERAPIE GEGEN LYMPHDRÜSENKREBS
Eine ebenfalls EU-geförderte Forschungsinitiative der Justus-Liebig-Universität in Gießen hat deshalb beispielsweise bereits vor einigen Jahren begonnen, die Immunabwehr gegen das Tumorprotein ALK, anaplastische Lymphomkinase, bei Kindern mit Lymphdrüsenkrebs zu untersuchen. Mit Standardtherapien konnten nur etwa 70 Prozent der Kinder mit ALK-positiven Lymphomen, das heißt mit Krebsarten, bei denen weiße Blutkörperchen des Immunsystems entartet sind, geheilt werden. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wiesen nach, dass Kinder mit einer starken Antikörperreaktion gegen das ALK-Protein ein geringes Rückfallrisiko hatten. Die Erforschung dieser Immunantwort kann die Basis für eine Behandlungsstrategie sein, bei der das Abwehrsystem der betroffenen Kinder speziell gestärkt wird, um den Lymphknotenkrebs zu bekämpfen.
Der häufigste Lymphdrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen ist das Hodgkin-Lymphom. Patientinnen und Patienten können mit einer kombinierten Chemo-Radiotherapie meist erfolgreich behandelt werden. Allerdings ist das Risiko groß, einen Rückfall zu erleiden und später Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln. Eine Studie, deren Ergebnisse 2023 in der Fachzeitschrift „Lancet Oncology“ erschienen, zeigte, dass bei Kindern und Jugendlichen mit Hodgkin-Lymphom im Frühstadium nach erfolgreicher Chemotherapie auf eine anschließende Strahlenbehandlung verzichtet werden konnte. Das Risiko von behandlungsbedingten Spätfolgen kann so verringert werden.