Therapieren ohne Grenzen

Internationale Datensammlungen sollen die Chancen auf schnelle Diagnosen und optimale Behandlungen Seltener Erkrankungen erhöhen. Die Realität ist ernüchternd.
Illustrationen: Banu Nefes Yildiz
Illustrationen: Banu Nefes Yildiz
Andrea Hessler Redaktion

Wissenschaftler arbeiten mittels Empirie, das heißt, sie sammeln systematisch Daten und werten diese aus. Im Falle der Seltenen Erkrankungen ist dies schwierig, denn es gibt bei den einzelnen Krankheitsbildern nur wenige Betroffene, die zudem oft weit verstreut leben. Selbst wenn sie eine richtige Diagnose und lindernde Therapien erhalten, was oft Jahre dauert, erfahren andere Patienten und deren Ärzte meist lange nichts davon.

 

Verbesserungen bringen soll das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE), das sich unter anderem für die Digitalisierung des Versorgungsbereichs der Betroffenen einsetzt. In seinem Strategiepapier „Bedarfe an die Digitalisierung für den Bereich Seltenerx Erkrankungen“ weisen die NAMSE-Experten darauf hin, dass Seltene Erkrankungen häufig eine Behandlung über Sektoren und Bundeslandgrenzen erforderten. Die Digitalisierung biete Möglichkeiten, eine Wissen generierende Versorgung, das Anlegen von Registern und Forschungsvorhaben maßgeblich zu erleichtern. Unter anderem sollten, so das Positionspapier, „Informationssysteme in Kliniken und Praxen deutschlandweit interoperabel sein“. Außerdem sollten Seltene Erkrankungen „auf der Grundlage von internationalen Klassifikationen deutschlandweit einheitlich und verbindlich kodiert werden.“

 

Daran hapert es. Der mangelhafte Informationsaustausch zwischen den Beteiligten verhindert die schnellere Entwicklung von Therapien. Das trifft die Betroffenen besonders hart, denn Seltene Erkrankungen sind überwiegend genetisch bedingt und können in der Regel noch nicht geheilt werden. Eine Alternative ist die Weitergabe von praktischen Erfahrungen in der Behandlung bestimmter Krankheitsbilder, zum Beispiel beim Einsatz von sogenannten Off-Label-Medikamenten, also Arzneimitteln, die für ein anderes Krankheitsbild zugelassen sind. Auch bestimmte praktische Maßnahmen, zum Beispiel gezielte Physiotherapien im Falle der Mukoviszidose, können die Lebensdauer verlängern – falls der behandelnde Arzt Zugang zu entsprechenden Daten hat und von derartigen Behandlungsmöglichkeiten erfährt.

 

Den Datenaustausch optimieren soll das Projekt CORD-MI (Collaboration on Rare Diseases), in dem sich zahlreiche Unikliniken und weitere Institutionen zusammengeschlossen haben. CORD-MI ist ein Anwendungsfall der Medizininformatik-Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Diese soll die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Forschung und Versorgung von Patienten besser koordiniert werden. Insbesondere soll sie helfen, die Erkenntnisse der Forschung besser in die Patientenversorgung zu integrieren.

 

Ein weiteres Projekt zur Förderung des Datenaustauschs ist das Open-Source-Registersystem für Seltene Erkrankungen, OSSE. Es ermöglicht Patientenvereinigungen, Kliniken, Forschern und anderen Beteiligten mit Hilfe einer Open-Source-Software Patientenregister aufzubauen. Mittels OSSE werden Daten mit einheitlichen Standards erfasst und der Datenschutz gewährleistet. Dieser spielt gerade in dem sensiblen Bereich überwiegend unheilbarer Krankheiten, die das private und berufliche Leben der Betroffenen enorm beeinträchtigen können, eine wichtige Rolle. Daher hat der Gesetzgeber bereits im Jahr 2003 die Partner der medizinischen

 

Selbstverwaltung (unter anderem Krankenkassen und Ärztekammern) damit beauftragt, eine vernetzte Plattform für sichere Kommunikation und den Austausch sensibler medizinischer Daten aufzubauen, die sogenannte Telematik-Infrastruktur. Sie soll wichtige Prinzipien wie Freiwilligkeit der Datenüberlassung und deren umfassende Akzeptanz bei Ärzten und Patienten gewährleisten.

 

Doch letztlich sind nicht nur die Dateninhalte entscheidend, sondern auch, wie sie erhoben und kommuniziert werden. Dies hat eine Gruppe von Forschern der Universität Witten/Herdecke (UW/H) und der Harvard University (Boston, USA) herausgefunden. „Nach Studienlage versteht etwa die Hälfte der Patienten, die zum Arzt gehen, nicht genau, was gerade besprochen wurde“, erläutert der Studienleiter Prof. Dr. Tobias Esch. „In der Zukunft wird es für Ärzte immer wichtiger werden, nicht nur die Krankheit des Patienten zu betrachten, sondern gemeinsam mit dem Patienten an seiner Genesung zu arbeiten. Dazu muss dieser involviert sein, verstehen, was passiert und sich als aktiven Teil der Behandlung ansehen. Patienten, die sich eingebunden fühlen, erzielen in der Regel auch bessere Therapieerfolge. Dafür brauchen wir eine patientenbasierte und integrative Medizin.“

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