»Menschen mit seltenen Erkrankungen haben einen langen Leidensweg hinter sich«

Welchen psychischen Belastungen sind Patienten mit seltenen Erkrankungen ausgesetzt? Welche Auswirkungen hat die oft jahrelange Suche nach einer Diagnose?
Illustrationen: Banu Nefes Yildiz
Illustrationen: Banu Nefes Yildiz
Interview: Mirko Heinemann Redaktion

Ein Gespräch mit Dr. med. Beate Kolb-Niemann, Stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Marburg und Gründungsmitglied des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) in Marburg.

 

Frau Dr. Kolb-Niemann, warum beschäftigen Sie sich als Psychosomatikerin mit seltenen Erkrankungen?

Die fachliche Fokussierung ergab sich aus der Zusammenarbeit mit dem Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg. Vom Zeitpunkt der Gründung an wurde hier die Psychosomatik mit einbezogen, weil uns die Bedeutung dieses Faches für Menschen mit komplexen und oft chronischen Erkrankungen von Anfang an bewusst war. Die Fragestellung, ob es sich bei unklaren Beschwerden um eine seltene Erkrankung oder um eine psychosomatische Erkrankung handeln könnte, steht ja häufig im Raum.

 

Welche Rolle spielt denn die Psychosomatik bei einer Diagnose?

Bei mindestens einem Viertel aller Patienten – also nicht nur denen mit einer seltenen Erkrankung – spielen psychische Faktoren bei ihrer Erkrankung eine Rolle. Wenn wir im Rahmen des Diagnoseprozesses bei Patienten Beschwerden vorfinden, für die wir keine hinreichende organische Erklärung haben, müssen wir selbstverständlich auch nach psychosomatischen Ursachen fahnden. Wir stehen dabei im engen Kontakt mit der Organmedizin und bleiben im Laufe des Diagnostik-Prozesses stets offen in beide Richtungen.

 

Mit welchen Beschwerden kommen denn die meisten Patienten?

Das ist ganz breit gefächert. Bei fast jedem bisher ungeklärtem Körpersymptom kann es sich theoretisch sowohl um Symptome einer seltenen, bislang nicht erkannten Erkrankung als auch einer psychosomatischen Erkrankung handeln. Das macht es auch so schwierig und erfordert oftmals Teamarbeit.

 

Wie ernst werden Patienten mit unklaren Symptomen, hinter denen dann eine seltene Erkrankung diagnostiziert wird, von der Medizin genommen?

Viele Patienten mit einer seltenen Erkrankung berichten, dass sie sich im Laufe ihrer Odyssee durch die Arztpraxen und Krankenhäuser als Hypochonder stigmatisiert fühlten. Wie ausgeprägt das ist, ist im Einzelfall sehr unterschiedlich. Patienten berichten, sich von Medizinern, die nachdem sie eine Diagnostik durchgeführt haben, die zu keiner Klärung geführt hat, mit dem Verweis auf die Psyche alleine gelassen gefühlt zu haben. Wir als Psychosomatiker sehen das grundsätzlich anders: Auch eine psychisch bedingte Symptombildung muss in ihrem Prinzip von Ursache und Wirkung klar nachvollziehbar sein, um den Patienten zielführend zu therapieren. Es herrscht also Nachweispflicht. Soll heißen, nur weil man zunächst nichts Somatisches findet, kann man nicht sagen, dann ist es eben „psychisch“. Man kann ja auch nicht von einem Brustschmerz auf Herzinfarkt schließen und entsprechend behandeln, ohne dass man den Infarkt nachgewiesen hat.

 

Gleichzeitig sind Menschen mit einer seltenen Erkrankung psychisch besonders belastet. Wie wirkt sich das aus?

Patienten mit einer seltenen Erkrankung warten im Durchschnitt vier Jahre auf ihre Diagnose. In dieser Zeit wenden sich die Patienten durchschnittlich an fünf Ärzte. Im Schnitt bekommen sie währenddessen drei Fehldiagnosen. Kein Wunder, dass eine große Mehrheit der Patienten von einem negativen Einfluss des langen Prozesses der Diagnosefindung auf die psychische Gesundheit  berichtet. Diese Menschen haben einen langen Leidensweg hinter sich.

 

Kann man beziffern, wie ausgeprägt die Belastungen sind?

Es gibt Untersuchungen aus den USA und Großbritannien, wonach bis zu 75 Prozent der Patienten mit einer seltenen Erkrankung an Depressionen leiden. Mehr als 80 Prozent der Patienten mit seltenen Erkrankungen berichten von Angst und Stresssymptomen. Dabei stehen Sorgen um die Zukunft im Vordergrund. 65 Prozent der US-amerikanischen und 57 Prozent der britischen Patienten fühlen sich durch ihre Erkrankung von Familie und Freunden isoliert, noch mehr berichten von einer verminderten Interaktion mit Familie und Freunden. 35 Prozent haben suizidale Gedanken. Das betrifft vor allem den Teil der Menschen, für deren seltene Erkrankung es keine ursächliche Therapie gibt. Zunächst sorgt eine Diagnose für Entlastung, weil es endlich eine Erklärung für die Symptome gibt. Für all die Patienten, denen man keine adäquate Therapie anbieten kann, sollte es Unterstützungsangebote geben. Dies gilt übrigens auch für die Angehörigen, die oftmals vergessen werden. Ansätze in dieser Art verfolgt in Deutschland zum Beispiel das ZSE DUO Konsortium, in dem 11 Zentren für Seltene Erkrankungen gebündelt sind.

 

Würden Sie Menschen mit seltenen Erkrankungen raten, sich psychologischen Beistand zu suchen?

Ganz allgemein gilt, dass immer dann, wenn eine krankheitswertige psychische Belastung vorliegt, eine psychotherapeutische Unterstützung sinnvoll ist. Die Wahl des Behandlungsverfahrens hängt dabei von der Fragestellung und vom Therapieziel ab, die vor Beginn einer Therapie geklärt sein sollten. Ob ein Patient mit unklaren Beschwerden eine seltene Erkrankung hat, eine andere somatische Krankheit oder eine psychosomatische Erkrankung, muss ja erst einmal herausgearbeitet werden. Das weiß man erst nach Abschluss der oft langwierigen Diagnostik. Wichtig ist es in jedem Fall die Beschwerden der Patienten nicht voreilig auf rein psychische Ursachen im Sinne einer Ausschlussdiagnose zu reduzieren. Man muss neben einer psychosomatischen Abklärung weiterhin eine mögliche organische Erkrankung im Blick behalten. Gleichzeitig sollten unnötige Doppeluntersuchungen vermieden werden. Sollte auch die psychosomatische Diagnostik keine hinreichende Erklärung für eine – überwiegend – psychische Verursachung der Krankheitsentwicklung ergeben, kann trotzdem eine begleitende psychotherapeutische Anbindung sinnvoll sein. Dieser therapeutische Ansatz hat dann aber nichts mit der Diagnostik zu tun, sondern hier geht es darum, die Auswirkungen der Unsicherheit zu behandeln und den Umgang mit einer schwierigen Lebensphase zu erleichtern.

 

Und wenn dann die Diagnose lautet: Seltene Erkrankung?

Dann kann die Diagnose entlastend wirken, da der Patient endlich eine Erklärung für seine Beschwerden erhält. Es kann aber auch eine zweite Belastung dazukommen, zum Beispiel, wenn die Erkrankung nicht therapiert werden kann oder die Therapie belastend ist. Auf jeden Fall sollten Patienten befragt werden, ob und inwiefern sie psychisch belastet sind. In den benannten Studien wurde von den Betroffenen vielfach angemerkt, dass die Konzepte der psychischen Unterstützung für Patienten mit seltenen Erkrankungen offenbar unzureichend sind. Nur einer von sieben Patienten mit einer seltenen Erkrankung gibt an, sich psychologisch ausreichend unterstützt zu fühlen. In einer Studie der Organisation Rare Disease UK aus dem Jahre 2018 geben 46 Prozent der befragten Patienten an, kein einziges Mal von Ärzten nach dem emotionalen und psychischen Wohlbefinden gefragt worden zu sein. Daher finden wir auch den Ansatz von ZSE DUO so wichtig.

 

Dieser Wert stellt den beteiligten Ärzten kein gutes Zeugnis aus. Wie viele werden dann überhaupt psychologisch betreut?

Das ist so nicht richtig. Die Hausärzte sind in aller Regel sehr engagiert und helfen so gut sie können. Allerdings fehlt es uns an Strukturen, die die Haus-ärzte bei solch komplexen Fällen unterstützen und zeitnahe Hilfe für die Patienten anbieten können. Es ist problematisch, dass die Zentren für seltene Erkrankungen keine ausreichende Finanzierung erhalten und in der Regel sehr lange Wartezeiten haben. Es ist auch schade, dass Projekte wie das ZSE DUO nur wenigen Standorten vorbehalten bleibt. Daher berichten mehr als die Hälfte der Befragten, dass sie bisher noch kein einziges Mal professionelle psychologische Unterstützung bekommen haben. Von denjenigen Patienten, die bereits psychologische Unterstützung hatten, gab knapp jeder Fünfte an, dass er sich die psychologische Unterstützung in Eigeninitiative und nicht im Rahmen des strukturierten Therapieangebots während der laufenden Behandlung eingeholt hatte.

 

Die psychischen Belastungen sind ja allgemein durch die Pandemie angestiegen. Wie hat sich Corona bei Ihnen in der Klinik ausgewirkt?

Zu Beginn der Pandemie gab es bei uns die Vorstellung, dass sehr viele Patienten sich aufgrund der Belastungen durch die Corona-Situation bei uns melden. Das ist bisher nicht eingetreten, sondern die auslösenden Faktoren waren zunächst auf die Zeit vor Corona zurückzuführen. Was wir aber beobachten, ist, dass sich vorbestehende Problematiken durch die Corona-Situation verstärken. Bestimmte Belastungen führen dazu, dass die Kompensationsmöglichkeiten nicht mehr ausreichen, der Patient mit körperlichen und / oder psychischen Symptomen dekompensiert. Das ist wie bei einem vollen Fass, das der letzte Tropfen zum Überlaufen bringt. Dies geschieht, wenn zu einer vorbestehenden Belastung existenzielle Fragen hinzukommen, etwa der Verlust des Arbeitsplatzes oder gar der Verlust von Angehörigen durch eine schwer verlaufende Covid-19-Erkrankung. Auch hinzukommende Belastungen durch Schwierigkeiten im Home-Office, Isolation, Einsamkeit können eine Rolle spielen. Bei jungen Leuten gibt es häufig Belastungen dadurch, dass sie durch Corona gehindert werden, in die Welt auszuziehen und Autonomieschritte zu vollziehen.

 

Möglicherweise sehen wir die Zunahme an psychosomatischen Erkrankungen in Zukunft noch deutlicher.

 

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