Hoffen auf die Diagnose

Spezialisierte Zentren und Künstliche Intelligenz sollen die Früherkennung von seltenen Erkrankungen verbessern
Illustration: Robert Seegler
Illustration: Robert Seegler
Andrea Hessler Redaktion

Rund drei Millionen Kinder in Deutschland leiden an einer der rund 8.000 seltenen Krankheiten. Viele gehen mit merkwürdigen Symptomkombinationen einher, die eine korrekte Diagnose unsicher wie ein Glücksspiel machen. Ein Beispiel ist das Zusammentreffen von Bauchschmerzen und Hautschwellungen. Diese Symptome können Anzeichen für das hereditäre Angioödem (HAE) sein. Doch Ärzte diagnostizieren oft Allergien, eine Blinddarmentzündung oder ein Magengeschwür. Die Konsequenz: Die Betroffenen leiden Jahre, bis die wahre Ursache erkannt wird.

Vielen Kindern hätte eine frühzeitige Diagnose Schmerzen und Leid erspart. Doch die üblichen Vorsorgeuntersuchungen und Labortests für Säuglinge und Kleinkinder decken nur vergleichsweise bekannte seltene Erkrankungen ab – etwa Hypothyreose, eine Schilddrüsenunterfunktion und Mukoviszidose, eine Schleimbildung mit Atemproblemen.

Viele seltene Erkrankungen sind wenig erforscht und vielfach selbst unter Ärzten unbekannt; einige können nicht adäquat diagnostiziert, geschweige denn behandelt werden. In den vergangenen Jahren sind deswegen in Deutschland viele Zentren für unbekannte Krankheiten entstanden. Sie dienen dazu, die Zusammenarbeit zwischen Ärzten zu fördern und Diagnostik wie Therapie zu verbessern.

Die meisten seltenen Erkrankungen können sogar nur in medizinischen Spezialzentren diagnostiziert werden. Etwa an der Uniklinik Bonn. Im Zentrum für Seltene Erkrankungen mit der Interdisziplinären Kompetenzeinheit für Patienten ohne Diagnose (InterPoD) arbeiten Spezialisten daran, bei Patienten, bei denen bisher trotz zahlreicher Arztkontakte und Untersuchungen keine diagnostische Einordnung möglich war, eine zutreffende Diagnose zu stellen.

Auch Künstliche Intelligenz soll neue Diagnosemöglichkeiten eröffnen. So hat ein Team aus amerikanischen, deutschen und israelischen Forschern die Smartphone-App „Face2Gene“ zur Analyse von Gesichtern entwickelt. Die App-Software „DeepGestalt“ verwendet einen Deep-Learning-Algorithmus, dessen Grundlage mehr als 150.000 Portraitfotos von Kleinkindern sind. Er macht sich zunutze, dass viele Gendefekte sich als Anomalien bei Augen, Mund und Kinn zeigen. Erste Versuche haben gezeigt, dass die Software eine höhere Treffsicherheit bietet als klinische Gentests.

Doch immer noch bleibt die große Frage: Wie lassen sich Gendefekte vermeiden oder beheben? Spektakulärster Erfolg ist wohl die „Crispr/Cas-Methode“, mit der fehlerhaftes Erbmaterial gezielt geschnitten und verändert werden kann. Erfolgreiche Experimente an Tieren mittels der Crispr-Genschere lassen viele Patienten mit seltenen Krankheiten auf Heilung hoffen. Noch weiter vorne als die Genschere setzt George Church an, Genetik-Professor an der Harvard Medical School. Er will mit seiner Dating-App Digid8 verhindern, dass Träger kranker Gene sich liieren und – schlimmstenfalls – Kinder bekommen, bei denen die Erbkrankheiten dann ausbrechen.

Kritiker derartiger wissenschaftlicher Fortschritte fürchten einen Siegeszug eugenischer Maßnahmen. Doch genetische Testverfahren für Paare mit Kinderwunsch, die bestimmte Erbkrankheiten mit sogenannten präkonzeptionellen Anlage-Screenings ausschließen wollen, gibt es schon lange. Mittels der Analyse-Kits lassen sich einige Hundert mögliche Beeinträchtigungen noch zu zeugender Kinder testen. Die ethisch-moralische Komponente derartiger Tests wird heftig diskutiert.

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