»Teamarbeit ist bei den Seltenen extrem wichtig«

Professor Jürgen Schäfer hat vor über zehn Jahren das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) am Universitätsklinikum Gießen-Marburg ins Leben gerufen. Dabei hat er die detektivische Diagnostik einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Eine Fernsehserie hat ihm dabei geholfen.

Professor Jürgen Schäfer
Professor Jürgen Schäfer
Mirko Heinemann Redaktion

Herr Professor Schäfer, Sie werden auch als der deutsche „Dr. House“ bezeichnet. Woher das?

Um unsere Medizinstudenten und Medizinstudentinnen für Seltene Erkrankungen und die Faszination der Diagnosefindung zu begeistern, begann ich vor gut 15 Jahren ein seinerzeit neuartiges Lehrformat zu entwickeln. Ich nutzte die damals recht beliebte Fernsehserie „Dr. House“, um Studierende in ein Seminar zum Thema „Seltene Erkrankungen“ zu locken. Dass dies mit der Hilfe von Dr. House funktioniert, konnten wir auch wissenschaftlich nachweisen. So wurde die Fernsehserie Dr. House für uns zu einem Türöffner, um junge Mediziner für die Seltenen zu begeistern.

 

Sie wird als Wiederholung immer noch gezeigt. Wobei: Dr. Gregory House ist zwar ein hoch intelligenter, aber auch sozial schwieriger Charakter.

Ja, hier zeigt sich schön das Spannungsfeld zwischen einem menschlich empathischen oder einem fachlich brillanten Charakter. Was ist mir lieber, bei Prof. Brinkmann von der Schwarzwaldklinik zu sterben, währenddessen er an meinem Bett sitzt und mir die Hand hält, oder bei Dr. House gesund zu werden, währenddessen er im Flur steht und über die Klinikleitung schimpft. Natürlich braucht es in der Medizin beides und wir in Marburg und an allen anderen Universitätskliniken auch bemühen uns, sowohl fachlich exzellente als auch menschlich integre Persönlichkeiten auszubilden.

 

Sie hingegen werden als sehr empathischer Arzt beschrieben. Für Betroffene von Seltenen Erkrankungen ist das enorm wichtig: Sieben Jahre dauert es im Durchschnitt, bis sie eine korrekte Diagnose erhalten.

Ja, das ist eine Tortur, psychisch wie körperlich. Als anlässlich meiner Uni-Seminare über Seltene Erkrankungen die Bezeichnung „deutscher Dr. House“ durch die Medien ging, bekam ich Tausende von Zuschriften von verzweifelten Patientinnen und Patienten. Das war der Anstoß für unsere Geschäftsführung, das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg zu gründen. Das war vor über zehn Jahren.

 

Wie läuft eine Diagnostik bei Seltenen Erkrankungen ab?

Primär sichten wir aufgrund der Dringlichkeit natürlich Klinikanfragen, zuallererst die aus den Fachabteilungen unseres eigenen Hauses oder anderer Universitätskliniken. Es folgen die Patientenfälle, bei denen sich Kollegen externer Einrichtungen oder Niedergelassene mit der Bitte um Hilfe an uns wenden. Da wir keine eigenen Betten haben, ist für uns die enge Zusammenarbeit mit einem anfragenden Hausarzt sehr wichtig, da dieser dann unsere Vorschläge letztendlich auch umsetzen muss.

 

Wie kann eine medizindetektivische Forschung aussehen?

Wir treffen uns zu regelmäßigen Teamsitzungen in einer Gruppe von etwa zehn Kolleginnen und Kollegen aus völlig verschiedenen Schwerpunkten, also von der Allgemeinmedizin bis hin zur Psychosomatik. Dabei wird jeder Patientenfall ausführlich und manchmal auch kontrovers diskutiert. Mit diesem Ansatz der Teambesprechungen kommen wir oftmals auf die richtige Spur.

 

Was, wenn es sich um eine neue Krankheit handelt, die noch nie beschrieben wurde?

Das kommt zwar selten, aber durchaus auch immer wieder mal vor. So hatten wir einen Mitte 60-jährigen Patienten, der hatte immer wieder Lähmungsattacken, und dies seit fast 50 Jahren. Dabei bekam er aus heiterem Himmel einen Schwächeanfall. Diese fürchterlichen Attacken durchlebte er zum Schluss fast täglich.

 

Wie sind Sie bei der Diagnostik vorgegangen?

Wir haben zunächst gemeinsam mit dem Patienten überlegt, wann die Lähmungen vor allem auftraten. Der Patient selbst hatte den Verdacht, dass die Anzahl und Stärke der Schübe mit der Ernährung zusammenhängen könnten. Drum baten wir den Patienten, ein detailliertes Ernährungs- und Befindlichkeitstagebuch zu führen, in dem er dezidiert festhielt, was er zu welchen Zeiten zu sich nahm und wie er sich im Laufe des Tages fühlte. Der Patient, selbst Mathematiker, hat dann selbstständig die Konzentrationen in den Nahrungsmitteln ermittelt und mit seinem Befinden korreliert. Dabei zeigte sich, dass die Symptome immer dann verstärkt auftraten, wenn er besonders viel Kalium zu sich nahm.

Illustration: Sascha Duevel
Illustration: Sascha Duevel

Woran lag das?

Das war für uns ein echtes Rätsel. Unsere Neurologen haben ihn zur Klärung stationär aufgenommen und wir führten eine extrem aufwändige Labordiagnostik gemeinsam mit unseren Physiologen an der Universität durch. In der Tat fanden wir eine bislang unbekannte Veränderung am Promotor eines Kaliumkanals, also an dem Schalter, der die Aktivität dieses Kanals und damit den Einstrom von Kalium in die Zelle reguliert. Der Kanal ist bei unserem Patienten permanent aktiviert und pumpt daher unkontrolliert Kalium in die Zelle. So kam es zu den Lähmungen. Diesen neuartigen Mechanismus haben wir in einem Fachjournal publiziert. 

 

Unglaublich. Welche Therapie folgte daraus?

Das war das Tolle: Der Mann hatte ja über sein Ernährungstagebuch seine Diagnose quasi selbst gestellt und konnte zeigen, dass viel Kalium seine Probleme verschlimmert. Wir haben dann das Kalium leicht abgesenkt, mit Entwässerungsmitteln und kaliumarmer Kost. Schon am nächsten Tag hat er eine lange Wanderung durch den Wald gemacht und fühlte sich wie neu geboren. Für uns war das ein sehr bewegender Fall, weil die schweren Lähmungsattacken seitdem nicht mehr auftreten.

 

Welche Rolle spielte dabei Ihre Spezialisierung als Zentrum für Seltene Erkrankungen?

Der gerade erwähnte Fall zeigt sehr schön, warum solche Zentren zentraler Bestandteil der universitären Medizin im besten Sinne sein sollten. Zur Lösung solch komplizierter Fälle sind sowohl erfahrene Kliniker der unterschiedlichsten Disziplinen als auch klinisch orientierte Grundlagenwissenschaftler notwendig. Was unser kostbarstes Gut für die Lösung unerkannter und seltener Erkrankungen ist, das sind engagierte Ärztinnen und Ärzte mit brennender Neugierde, denen die Zeit für die erforderliche Detektivarbeit gewährt wird. Für manche Fälle braucht es mehrere Tage, um alleine die zahlreichen Voruntersuchungen sowie Laborergebnisse kritisch zu sichten. Auch dies ist im Grunde genommen nur an einer Universitätsklinik möglich.

 

Welche Rolle spielt dabei der Einsatz von Künstlicher Intelligenz?

Gerade wegen der Komplexität der Fälle braucht es zur Lösung eine umfassende technische Unterstützung. Daher haben wir, ebenso wie viele andere Zentren, bereits früh den Schulterschluss mit innovativen Technologien, auch – aber nicht nur – im Bereich der Künstlichen Intelligenz, gesucht. Hier spielen KI-Anwendungen eine immer größere Rolle und könnten tatsächlich zum „Game-Changer“ werden.

 

Das betrifft bisher den Bereich der Diagnostik. Was ist mit der Behandlung?

Ja, das ist eine gute Frage. Hier ist es wichtig, dass im Bereich der Seltenen sowohl die Versorgungsstrukturen verbessert als auch neue Therapiemöglichkeiten erforscht werden. Auch im Bereich der Therapie sind die Seltenen wahre Innovationstreiber. Wir sollten auch nie vergessen, dass unser besseres Verständnis für die Seltenen auch den Häufigen zugutekommt und wir als Gesellschaft gut beraten sind, dies nach besten Kräften zu unterstützen. Medizinische Forschung hilft hier wirklich allen und muss gestärkt werden. Erfreulicherweise wurde die Stärkung der Zentren für unerkannte und seltene Erkrankungen erstmalig auch in den Koalitionsvertrag der hessischen Landesregierung aufgenommen, so dass man sagen kann, dass die Seltenen auch bei den politisch Verantwortlichen wahrgenommen werden. Maßgeblich dazu beigetragen haben hier die Aktivitäten der ACHSE e.V. mit ihrer Schirmherrin Frau Eva Luise Köhler sowie neuerdings Fördervereine wie FusE Hessen mit dessen Schirmherrin Frau Tanja Raab-Rhein. Ohne das wunderbare Engagement von Vielen wäre die ohnehin schwierige Situation der Menschen mit Seltenen Erkrankungen immer noch um einiges schwerer. All diesen Menschen gilt an einem Tag wie diesem unser Dank!