»Entscheidend sind Forschung und Vernetzung«

Forschung und Behandlung Seltener Erkrankungen haben in den vergangenen Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Zentren für Seltene Erkrankungen wie das ZESE am Universitätsklinikum Würzburg. Dessen Direktor Professor Helge Hebestreit, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Kinderpneumologie, betont die wichtige Rolle von Datenbanken, Genomanalyse und Vernetzung.

Prof. Dr. med. Helge Hebestreit, Stellvertretender Klinikleiter der Universitäts-Kinderklinik in Würzburg und Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZESE)
Prof. Dr. med. Helge Hebestreit, Stellvertretender Klinikleiter der Universitäts-Kinderklinik in Würzburg und Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZESE)
Interview: Andrea Hessler Redaktion

Herr Professor Hebestreit, Seltene Erkrankungen sind in den vergangenen Jahren mehr ins öffentliche Interesse gerückt. Sie beschäftigen sich jedoch schon lange mit ihnen. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?
Ich habe mich schon immer für ungewöhnliche Seiten der Medizin interessiert. So kam vor Jahrzehnten eine Patientin zu mir, die an der Mangelerkrankung Pellagra litt. Die ist bei uns sehr selten, sie tritt auf bei einem Mangel an dem B-Vitamin Niacin. Betroffene bekommen Durchfall, Hautauschlag, werden dement und sterben schließlich. Die Krankheit tritt vor allem dort auf, wo Menschen sich hauptsächlich von Mais oder Hirse ernähren, die nicht so verarbeitet werden, dass der Körper das Niacin der Pflanze verwerten kann. Eine derartige Mangelerscheinung ist hierzulande völlig ungewöhnlich. Wir entdeckten durch Zufall, um welche Krankheit es sich handelte und konnten damit auf einfachem Wege helfen. Dieser Fall war einer der Anstöße, die mich zu den Seltenen Erkrankungen führten. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Arbeit meiner Frau, die ebenfalls Kinderärztin mit Schwerpunkt Kinderpneumologie ist und seit mehr als 25 Jahren  Menschen mit Mukoviszidose behandelt. Die multi-professionelle Versorgung bei Mukoviszidose ist eine Blaupause für Strukturen und Prozesse in der Behandlung Seltener Erkrankungen allgemein. In den B-Zentren des ZESE, die sich gezielt mit einzelnen Seltenen Erkrankungen oder Krankheitsgruppen beschäftigen, das sind Spezialkliniken für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, werden pro Jahr mehr als 5.000 Patienten behandelt.

Die Mukoviszidose ist Teil des Neugeborenenscreenings. Hilft die Früherkennung bei der Behandlung?
Wie bei den anderen Erkrankungen, die im Neugeborenenscreening erfasst werden, ist auch bei der Mukoviszidose die frühzeitige Erkennung für den Behandlungserfolg entscheidend. Das Neugeborenenscreening erlaubt nämlich die Behandlung einer Erkrankung, bevor die Krankheit sichtbar wird und Schäden entstanden sind.  Bei der Mukoviszidose kann man dann dank immer besserer, wirksamer Medikamente den Krankheitsfortschritt verzögern und die Lebensqualität verbessern. So betrug die Lebenserwartung eines Neugeborenen mit Mukoviszidose bei Erstbeschreibung der Erkrankung im Jahr 1937 weniger als ein Jahr. Heute liegt sie  in Deutschland für die Betroffenen durchschnittlich bei 54 Jahren.

Menschen bekommen die unterschiedlichsten Krankheiten, die nicht sofort diagnostiziert werden können – nicht alle von diesen zählen zu den Seltenen Erkrankungen. Gleichzeitig kommen immer wieder neue Seltene Erkrankungen zu den bereits rund 6.000 dokumentierten hinzu. Woran liegt das?
Bei Seltenen Erkrankungen denkt man meist zuerst an Gendefekte beziehungsweise deren Auswirkungen. Für die Diagnose dieser Defekte gibt es immer bessere Methoden. So können zum Beispiel heute die Exome, das sind die proteinkodierenden Regionen unseres Genoms, analysiert werden. Das war ein echter Quantensprung, der es ermöglicht, Seltene Erkrankungen dingfest zu machen. Auf den Exomen befinden sich die meisten krankheitsverursachenden Mutationen. Der nächste große Schritt wird die Analyse des gesamten Genoms in der Krankenversorgung sein, der 2024 im Rahmen eines Modellvorhabens ansteht. Auch die Auswertung der genetischen Informationen gerade bei ultraseltenen Krankheitsbildern macht immer weitere Fortschritte, nicht zuletzt weil die verschiedenen Krankenhäuser und Zentren, Wissenschaftler und Behandler inzwischen sehr gut vernetzt sind.  Wir schauen aber auch nach, welche Eiweiße tatsächlich gebildet werden und was passiert, wenn diese ausfallen, um die Krankheiten besser zu verstehen. Insgesamt tragen alle diese Faktoren dazu bei, dass immer wieder neue Seltene Erkrankungen entdeckt werden.

Illustration: Stephanie Kolkmann
Illustration: Stephanie Kolkmann
Illustration: Stephanie Kolkmann
Illustration: Stephanie Kolkmann

Es gibt unzählige Varianten dieser genetischen Defekte. Wie erfahren verschiedene Forscher und Behandler von bestimmten Krankheitsbildern?
Eine enorme Hilfe sind Datenbanken. Wenn man auf eine unbekannte beziehungsweise ungeklärte Symptomatik stößt, kann man in ihnen suchen, ob dort Patienten mit gleicher genetischer Veränderung und ähnlicher Symptomatik registriert sind. Im besten Fall ist auch der Fehler in den Prozessen auf Zellebene schon gut verstanden.

Die medizinische Forschung ist teuer. Wer finanziert diese Vorhaben bei Seltenen Erkrankungen, wenn die Ergebnisse nur vergleichsweise wenigen Menschen zugutekommen?
Zunächst einmal sind die Seltenen Erkrankungen – in der EU definiert als maximal fünf Fälle pro 10.000 Einwohner und pro Krankheitsbild – zwar seltener als andere Krankheitsbilder.  In absoluten Zahlen sind es dann aber doch ziemlich viele Betroffene, nämlich definitionsgemäß bis zu 40.000 pro Krankheit allein in Deutschland. Außerdem lassen sich ihre Ergebnisse auch auf andere medizinische Bereiche übertragen. Dies zeigt, die Forschung kommt wirklich vielen Menschen zugute. Neben der Pharmaindustrie stellen zum Beispiel das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Deutsche Forschungsgesellschaft und die EU Mittel zur Verfügung. Eine wichtige Rolle spielen zudem Patientenorganisationen, die Geld sammeln und der Forschung zur Verfügung stellen. Vor allem in den USA kommen durch diese Interessengruppen viele Millionen Dollar zusammen.

Wie wichtig ist die internationale Vernetzung?
Sie ist sehr wichtig, was auch politisch erkannt wurde. So hat die EU unter anderem 24 europäische Referenznetzwerke etabliert. Diese sollen Expertise zu Seltenen Erkrankungen in allen europäischen Ländern u. a. durch konsiliarische Beratung gleichermaßen verfügbar machen, Leitlinien erstellen, Register aufbauen und bei Bedarf Patienten in ein Land begleiten, wo sie behandelt werden können, wenn das im Heimatland nicht möglich ist. Auch die Gründung internationaler Forschungsverbünde zur Entwicklung und Erforschung von Medikamenten, deren Mitglieder sich kennen und austauschen, sogenannte Clinical Trial Networks, sind gerade bei Seltenen Erkrankungen essentiell für die zukünftige Versorgung der Betroffenen. Und nicht zuletzt spielt auch die Vernetzung der Betroffenenorganisationen auf internationaler Ebene eine wichtige Rolle für alle zukünftigen Entwicklungen.

Nicht nur die Forschung verschlingt enorme Summen. Es gibt auch Therapien, die kaum ein Patient alleine aus eigener Tasche bezahlen kann. Ist es sinnvoll, so etwas zu finanzieren?
Der deutsche Ethikrat hat in einer Ad-Hoc-Empfehlung 2018 zu Seltenen Erkrankungen formuliert: „Es besteht weithin Konsens, dass eine solidarische Gesellschaft allen ihren Mitgliedern eine faire Chance auf adäquate Behandlung im Fall von Krankheit einräumen muss, unabhängig davon, ob es sich um eine häufige oder seltene Erkrankung handelt.“ Dabei sind natürlich auch wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen. Dank des medizinischen Fortschritts können wir heute auch Seltene Krankheiten heilen oder lindern, die zuvor unheilbar waren. So gibt es schon viele Jahre die Möglichkeit der Stammzellentransplantation, zum Beispiel bei schweren Immundefekten. Für einzelne Erkrankungen stehen auch Gentherapien zur Verfügung. Diese Therapien können bis deutlich mehr als eine Million Euro kosten. Ich persönlich bin sehr glücklich, dass wir in Deutschland diese oft lebensrettenden Therapiemöglichkeiten schon mit Zulassung durch die European Medical Agency haben. Dieses Privileg gilt es zu schützen und zu erhalten. Ich sehe aber auch, dass die Preisgestaltung nicht nur der Gewinnoptimierung folgen darf, sondern sich an einem fairen Ausgleich für Entwicklungskosten und Herstellung orientieren muss.

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