Verdienstvolle Forschung

Seltene Erkrankungen sind meist genetisch bedingt und schwer zu therapieren. Großzügige Forschungs- gelder und innovative Therapien motivieren Forschende und machen Betroffenen Hoffnung.

Illustrationen: Elena Resko
Illustrationen: Elena Resko
Andrea Hessler Redaktion

Irgendwann vor gut zehn Jahren fingen Menschen in den USA an, sich Kübel mit Eiswasser über den Kopf zu schütten. Die vermeintlich alberne Mutprobe hatte einen ernsten Hintergrund. Angeblich wurde sie von der Familie des an amyothropher Lateralsklerose (ALS) erkrankten früheren Baseball-Stars Peter Frates gestartet, die so auf das Leiden ihres gelähmten Familienmitglieds aufmerksam machen wollte: Schütte dir einen Eiskübel über den Kopf und spende dann zehn Dollar für die Erforschung von ALS, war die Devise. Tausende Menschen weltweit nahmen die Herausforderung an, was zu enormer Publicity und Spenden in Millionenhöhe führte.
 

MEHR AUFMERKSAMKEIT


Nur wenige Seltene Erkrankungen genießen so viel Aufmerksamkeit. Das bedauern auch Wissenschaftler wie Dr. Andreas Bracher, Leiter des Bereichs Medical Affairs in Deutschland und Österreich beim Biotechnologie-Unternehmen Biogen. „Keine Erkrankung sollte so selten sein, dass sie ignoriert wird. Eine virale Kampagne gibt Menschen die Möglichkeit, die Betroffenen einer seltenen Krankheit zu unterstützen, hilft sie zu entstigmatisieren und steigert die Wahrnehmung. Langfristig gehört aber mehr dazu, um echten medizinischen Fortschritt zu erzielen.“

Doch bis zu einem Durchbruch vergeht oft viel Zeit. „Wir konnten für Patientinnen und Patienten mit Spinaler Muskelatrophie, kurz SMA, im Jahr 2017 die erste in Deutschland zugelassene Therapie anbieten.“ Weitere Behandlungsmethoden seien in der Pipeline, so Bracher, wie etwa für die Friedreich-Ataxie, welche die Bewegungskoordination stark beeinträchtigt. Zirka 1300 Menschen sind in Deutschland von der Krankheit betroffen. 

Trotz vieler Anstrengungen haben allein in Europa 95 Prozent der 30 Millionen Menschen, die an einer Seltenen Erkrankung leiden, keine Therapiemöglichkeiten. Zirka 50 Prozent haben noch nicht mal eine gesicherte molekulare Diagnose. „Keiner kann alles alleine lösen“, betont Bracher. „Deshalb entwickeln wir in Deutschland viele Angebote gemeinsam mit Betroffenen, Ärztinnen und Ärzten, Patientenorganisationen und Partnern aus der Branche.“
 

AUSTAUSCH FÖRDERN


Den Austausch fördern soll unter anderem die EU-Forschungspartnerschaft ERDERA (European Rare Diseases Research Alliance), die zum 1. September 2024 gestartet ist. Ihr Programm ist auf sieben Jahre angelegt und hat insgesamt ein Budget von 360 Millionen Euro. An ERDERA sind 175 Institutionen aus 37 Ländern beteiligt. Ziele sind zum Beispiel gemeinsame Forschungsprojekte, die Entwicklung von innovativen Grundlagenprogrammen und entsprechende Pilotprojekte. Auch deutsche Institutionen arbeiten an den ERDERA-Projekten mit. Von der Tübinger Universität sind dies das Zentrum für Seltene Erkrankungen, das Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik sowie das Hertie Institut für Klinische Hirnforschung. Ebenfalls dabei ist die niederländische Universität Leiden. Gemeinsam forschen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Entwicklung neuer innovativer und individualisierter Behandlungsmethoden wie etwa RNA-Therapien.

Auch der Pharmariese Pfizer forscht an neuen Behandlungsmöglichkeiten, unter anderen an Gentherapien bei monogenetischen Erkrankungen – Krankheiten, die durch Veränderungen an nur einem Gen verursacht werden. Dazu zählen beispielsweise die Hämophilie und einige neuromuskuläre Krankheitsbilder wie die Muskeldystrophie Duchenne. Diese Krankheit führt zu Muskelschwund und verkürzt die Lebenserwartung erheblich. Aktuell werden von Pfizer Gentherapien für Hämophilie A, Hämophilie B und die Duchenne-Muskeldystrophie entwickelt.

Auch für ALS-Betroffene zeigt sich ein Silberstreifen am Horizont. Ein Forschungsteam um Professorin Dr. Susanne Petri von der Klinik für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hat in Kooperation mit Wissenschaftler:innen aus Israel herausgefunden, dass ein Protein mit dem komplizierten Namen Makrophagen-Migrationsinhibitions-Faktor (MIF) den fortschreitenden Zerfall von Nervenfasern verlangsamen kann.
 

Illustrationen: Elena Resko
Illustrationen: Elena Resko

ENGAGEMENT DER BRANCHE


Generell dauert es lange, Medikamente zu entwickeln. Dennoch wurden im Jahr 2024 43 neue Medikamente zugelassen oder die Zulassungen bestehender Medikamente erweitert. 27 dieser Medikamente eignen sich zur Behandlung von Seltenen Erkrankungen. Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen, sagt dazu: „Das zeigt das anhaltende Engagement der Branche dafür, dass auch Patientinnen und Patienten nicht unversorgt bleiben, deren Krankheit nicht häufig vorkommt.“ 

Gleich drei der neuen Medikamente dienen der Behandlung von Menschen mit paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie (PNH) – einer Krankheit, bei der das Immunsystem u. a. rote Blutkörperchen angreift. Zwei der neuen Medikamente hat der Hersteller UCB Pharma zur Zusatzbehandlung bei Myastenia gravis entwickelt. Betroffene leiden an Muskelschwäche, weil Attacken des Immunsystems die Übertragung von Nervensignalen auf die Muskeln beeinträchtigen. Ungewöhnlich ist am Zulassungsjahrgang 2024, dass 30 der neuen Wirkstoffe ganz oder teilweise chemisch-synthetisch und nicht biologisch hergestellt werden; das sind deutlich mehr als in vorherigen Jahren. „Daran sieht man, dass die Chemie weiter große Bedeutung für Arzneimittelinnovationen hat“, betont Verbandspräsident Steutel. 13 der neuen Medikamente enthielten gentechnisch hergestellte Protein-Wirkstoffe. Allerdings kamen 2024 keine neuen Gen- oder Zelltherapien auf den Markt, es sei aber im laufenden Jahr mit der Einführung von weiteren zu rechnen.
 

HOFFNUNGSTRÄGER GENTECHNIK


Die Gentechnik bleibt gerade bei Seltenen Erkrankungen ein wichtiger Hoffnungsträger für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und vor allem für Betroffene. Dennoch erscheint die Erforschung Seltener Erkrankungen wie der Wettlauf von Hase und Igel – kaum ermöglichen Forschung und Entwicklung neue Diagnosen und Therapien, tauchen weitere Probleme auf. So wurden bei einer neuen Studie mit knapp 1600 Patientinnen und Patienten, an der unter anderen die Universitäten Heidelberg und Bonn beteiligt waren, alle Abschnitte der Probanden-DNA mit Einsatz von Künstlicher Intelligenz untersucht. Und schon kamen zur enormen Zahl bekannter Seltener Erkrankungen weitere hinzu. Bei 34 Teilnehmenden wurden neue, bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Gendefekte identifiziert: Ansporn für die Forschung, in ihren Bemühungen nicht nachzulassen.

Nächster Artikel