Versteckte Leiden

Tausende Menschen haben mit unerklärlichen Symptomen zu kämpfen. Gar nicht so selten sind dies sogenannte Seltene Krankheiten, für die es noch keine Heilung gibt. Helfen können spezialisierte Datenbanken und medizinische Zentren.

Illustration: Noemi Fabra
Illustration: Noemi Fabra
Andrea Hessler Redaktion

Die Hamburger Krimiautorin Gundula Thors war irritiert. Der Hubbel am Po tat zwar nicht weh, doch irgendwie fühlte er sich merkwürdig an. Und auch nach Wochen verschwand er einfach nicht. „Mein Gefühl sagte mir, das da etwas nicht stimmt“, berichtet sie über den Beginn ihrer Leidensgeschichte. Hausarzt und Dermatologin wiegelten ab, da sei nur ein Pickel, keinesfalls etwas Ernstes. Die resolute Fachfrau für belletristischen Mord und Totschlag wollte sich nicht abwimmeln lassen. Sie bestand darauf, dass das merkwürdige Ding entfernt und untersucht wurde. Dann kam der Schock. Die histologische Untersuchung brachte eine ebenso gefährliche wie überraschende Diagnose: ein Talgdrüsenkarzinom. Diese Krebsart tritt selten, aber gewöhnlich im Bereich von Kopf und Hals auf. Thors war geschockt. „Sogar Spezialisten in Krebszentren hatten noch nie etwas von einem Fall wie meinem gehört oder gelesen.“ Glücklicherweise hatte der Tumor noch nicht gestreut und konnte entfernt werden.

Gundula Thors hatte Glück im Unglück. Sie erhielt vergleichsweise zügig eine Diagnose und eine wirksame Therapie. Doch in vielen Fällen dauert es länger – im Durchschnitt etwa fünf Jahre – bis zur richtigen Diagnose einer seltenen Krankheit, einer sogenannten Orphan Disease. Dann müssen viele Betroffene erfahren, dass es sich um einen Gendefekt handelt und maximal Linderung, jedoch keine Heilung in Aussicht gestellt wird. Wobei der Begriff „selten“ missverständlich ist: In Europa gilt eine Krankheit als selten, wenn sie höchstens eine von 2.000 Personen trifft. Es gibt Tausende dieser Krankheiten, ungefähr 7.000 wurden bisher gefunden und beschrieben. Ständig kommen neue hinzu.

Viele treten, wie etwa die Neurofibromatose, eine genetisch bedingte Haut- und Nervenerkrankung, schon kurz nach der Geburt oder in der Kindheit auf. Trotzdem werden sie oft erst spät entdeckt. Teils bemerken die Erkrankten die Hautveränderungen nicht, bei anderen entwickeln sich im Laufe der Jahre anatomische Anomalien wie eine Verkrümmung der Wirbelsäule oder Knochendefekte in den Beinen oder im Schädel. Diagnostiziert werden kann die Krankheit anhand typischer äußerer Symptome wie etwa bestimmten Flecken auf der Haut oder mittels Magnetresonanztomografie (MRT) sowie Computertomografie (CT).

SAMMELN VON DATEN

Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen, die heute stationär in Universitätskliniken betreut werden, leiden an akuten oder chronischen Komplikationen Seltener Erkrankungen. Die WHO schätzt, dass etwa ein bis zwei Prozent aller Neugeborenen von einer Seltenen Erkrankung betroffen sind. Helfen können ihnen zum Beispiel die Zentren für Seltene Erkrankungen (www.research4rare.de/zentren-fuer-seltene-erkrankungen/). Bereits seit 2003 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) deutschlandweit vernetzte Forschungsverbünde. Auch dabei ist das Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Ebenfalls dort angesiedelt ist ein Koordinierungszentrum, das die verbundübergreifende Zusammenarbeit unterstützt. Es wird geleitet von Professor Thomas Klopstock, der auch das Deutsche Netzwerk für mitochondriale Erkrankungen koordiniert (mitoNET).

„Die Diagnostik genetisch bedingter Krankheitsbilder, darunter der mehr als 400 verschiedenen mitochondrialen Erkrankungen, hat sich in den letzten Jahren durch die Fortschritte der Molekularbiologie und der Sequenziertechnologien extrem verbessert und beschleunigt“, betont der Experte. „Jetzt stehen wir am Beginn des Zeitalters der molekularen Therapien mit Gentherapien, RNA-Therapien und anderen Medikamenten, die kausal in die Krankheitsprozesse eingreifen.“ Ein wichtiger Teil der Erforschung von Krankheiten und der Entwicklung von Therapien ist das Sammeln von Daten, Informationen zu Krankheitsverläufen und Gewebeproben. Im Rahmen von mitoNET konnte bereits ein Patientenregister mit über 1.700 Patientinnen und Patienten aufgebaut werden. Dadurch stehen qualitativ hochwertige Daten für Forschungsarbeiten zur Verfügung.

Illustration: Noemi Fabra
Illustration: Noemi Fabra

»Ein bis zwei Prozent aller Neugeborenen sind von einer Seltenen Erkrankung betroffen.«

So gelingt es immer wieder, auch bei Krankheiten, die bisher weder geheilt noch gelindert werden konnten, dank unermüdlicher Forschungsarbeit spektakuläre Erfolge zu erzielen. Ein Fall aus den vergangenen Jahren ist der eines italienischen Jungen, der unter Epidermolysis bullosa litt, die auch Schmetterlingskrankheit genannt wird. Der Gendefekt führt dazu, dass die Haut schon bei kleinsten Berührungen Blasen bildet und aufplatzt – empfindlich wie Schmetterlingsflügel. Betroffene erleiden starke Schmerzen und sterben meist jung.

NEUE THERAPIEANSÄTZE

Verantwortlich sind Gendefekte. Der Junge hatte Glück. Ein Behandlungsteam aus Deutschland und Italien ersetzte seine zerstörten Hautzellen durch genmanipulierte Zellen. Doch geraume Zeit war nicht klar, ob die Haut halten würde. Die plastischen Chirurgen Priv.-Doz. Dr. Maximilian Kückelhaus und Prof. Tobias Hirsch, die an der WWU forschen (Institut für Muskuloskelettale Medizin) und an der Fachklinik Hornheide sowie der Uniklinik Münster praktizieren, konnten kürzlich den Durchbruch melden. Die ersetzte Haut blieb stabil.
Kückelhaus und Hirsch bewiesen mit ihrer über fünf Jahre gelaufenen Studie: Die genmodifizierte Haut hat eine sehr gute Qualität und eine hundertprozentige Stabilität. Zugleich fand das Forschungsteam keinerlei Nebenwirkungen der Transplantation. „Nach diesem positiven und erfolgversprechenden Ergebnis sollen nun großangelegte klinische Studien laufen, um die kombinierte Gen- und Stammzelltherapie als Behandlungsoption für viele Kinder mit der Schmetterlingskrankheit verfügbar zu machen“, ist Prof. Hirsch optimistisch.

Dies könnte auch für andere Krankheiten bald Realität werden. Vielleicht kommt dann eine Zeit, in der die Zahl der Orphan Diseases sogar sinkt, anstatt weiter zu steigen.

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