Den Teufelskreis durchbrechen

Bei chronischen Schmerzen gibt es häufig keine eindeutige Diagnose. Oft spielen Psyche und Sozialleben eine große Rolle.
Illustration von Tolga Akdogan
Illustration von Tolga Akdogan
Sabine Philipp Redaktion

Bei der Diagnose ist detektivischer Spürsinn gefragt. „80 Prozent unserer Patienten leiden an unspezifischen Rückenschmerzen. Das bedeutet, dass sich keine körperliche Ursache nachweisen lässt“, erklärt Dr. Marc Seibolt vom Algesiologikum, mit 12.000 Patienten im Jahr die größte Einrichtung für Schmerztherapie in München. Ein großes Problem sieht der Schmerztherapeut und Chefarzt der Tagesklinik darin, dass die Patienten oft viel zu spät in eine Spezialeinrichtung kommen. Im Durchschnitt seien es vier bis sechs Jahre nach dem ersten Ereignis. „Da ist es natürlich schwierig, die Ursache zu finden.“ In den meisten Fällen hatten die Patienten Jahre zuvor beispielsweise einen Bandscheibenvorfall erlitten, der aber nicht in dem Bereich schmerzt, wo man es vermuten würde.

Meist komme noch eine psychosomatische Dimension dazu. „Die Menschen haben Angst, dass sie die Schmerzen nie wieder loswerden.“ Das verursacht Stress. Die Folge ist eine muskuläre Anspannung, was die Schmerzen weiter verschlimmern kann. Dann stehen Entspannungsübungen sowie Techniken zur Angstreduktion auf dem Therapieprogramm. Seibolt und seine Kollegen versuchen auch so gut wie möglich, Aufklärung zu betreiben. Die Patienten müssten über Körperfunktionen und die Wirkung von Medikamenten aufgeklärt werden. „Es ist aber auch sehr wichtig, dass unsere Patienten verstehen, wie Stress entsteht, was er mit uns macht und wie sie dagegen vorgehen können“, so Seibolt.

Ein wichtiges Schlagwort ist in diesem Kontext „Yellow Flag“, auf Deutsch gelbe Flagge. Yellow Flags sind psychosoziale Faktoren, etwa belastende Situationen am Arbeitsplatz. Bei körperlichen Ursachen wie Tumoren spricht man von roten Flaggen, also „Red Flags“. „Leider spielen Yellow Flags – anders als Red Flags – in der ärztlichen Praxis so gut wie keine Rolle“, bedauert Seibolt. Denn zeitintensive Gespräche mit den Patienten würden kaum honoriert. Er geht davon aus, dass 60 Prozent seiner Rückenschmerzpatienten eigentlich gar nichts am Rücken, sondern Probleme am Arbeitsplatz hätten. „Wenn Sie in einem Großraumbüro sitzen und permanent gemobbt werden, ist die

Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Schmerzen chronisch werden.“ Die Sozialpsychologin Naomi Eisenberger hat in einem Experiment gezeigt, dass bei sozialer Ausgrenzung dieselben Gehirnregionen wie beim Erleiden körperlicher Schmerzen aktiv sind. Soziale Interaktion ist ein menschliches Bedürfnis, was auch evolutionäre Gründe hat. Denn auf uns alleine gestellt wären wir in der Urzeit nicht überlebensfähig gewesen. Viele Schmerzpatienten ziehen sich jedoch zurück und vereinsamen. Die meisten Aktivitäten finden deshalb bewusst in Kleingruppen statt. „Die Arbeit in der Gruppe hat viele Vorteile“, so Seibolt. Die Teilnehmer könnten sich gegenseitig motivieren. Außerdem würden sie die Erfahrung machen, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine sind. „Wir möchten damit aber vor allem die soziale Isolation durchbrechen“, so der Mediziner. Verschiedene Studien würden zeigen, dass eine solche soziale Isolation Depressionen, beziehungsweise depressive Symptomatiken verstärken kann. Ihm ist wichtig, dass seine Patienten die Freude am Leben wiedergewinnen. „Wir fragen unsere Patienten immer, was ihnen denn früher Freude bereitet hat. Und motivieren sie, das weiter zu tun.“

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