Katharina möchte unerkannt bleiben. Die Mittdreißigerin arbeitet für eine große Unternehmensberatung und Krankheit sei hier oftmals gleichbedeutend mit Schwäche, sagt sie. Dennoch landete die junge Frau vor etwa einem halben Jahr mit zunächst unspezifischen Bauchschmerzen im Krankenhaus. Nach zahlreichen Untersuchungen die Entscheidung: OP wegen Verdacht auf Appendizitis. Und tatsächlich war der Wurmfortsatz, der um einen Teil des Dünndarms geschlungen war, entzündet. Die Symptome waren ob der ungewöhnlichen Lage des Appendix unspezifisch, erklärten ihr die Ärzte später.
Der Klinikaufenthalt kam für Katharina denkbar ungelegen, da sie mitten in einem großen und wichtigen Projekt steckte. „Meine Chefin fragte sogar, wo sie meinen Laptop hinschicken könne“, erinnert sich Katharina. Doch dazu kam es nicht. Denn unmittelbar, nachdem sie aus der Klinik entlassen wurde, kamen weitere Symptome hinzu. „Ich konnte plötzlich kaum noch etwas sehen. Das war sehr beängstigend“, sagt sie. Sie machte einen Termin beim Augenarzt, der die verminderte Sehfähigkeit zwar bestätigen, aber keine Ursache feststellen konnte. Auch die ambulante Überweisung an die nahe gelegene Universitätsklinik brachte keine Klarheit. Katharinas Sehfähigkeit lag auf dem rechten Auge nur noch bei 20 Prozent, organisch war jedoch alles in Ordnung. „Einer der behandelnden Augenärzte fragte in einer Besprechung nach diversen Untersuchungen dann auf einmal ganz einfühlsam, ob ich vielleicht gerade sehr viel Stress hätte“, erzählt Katharina. „Und da sprudelte es nur so aus meinen Tränendrüsen heraus. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, was den Arzt in dem Moment merklich überforderte.“
Wenn die Psyche den Körper beeinträchtigt
Stress, Anspannung und Konflikte machen krank – und zwar nicht nur psychisch. Immer dann, wenn eine Krankheit nicht auf organische Ursachen zurückzuführen ist und man annimmt, dass sie seelisch verursacht ist, spricht man von somatoformen oder auch funktionellen körperlichen Störungen. Interessanterweise sind die Ursachen für die Patientinnen und Patienten körperlich deutlich zu spüren. Bei somatoformen Störungen sind sehr häufig die Organe betroffen, die vom vegetativen Nervensystem kontrolliert werden – das Herz-Kreislauf-System, der Magen-Darm-Trakt oder die Atemwege.
Katharina nahm sich eine Auszeit vom Job und erholte sich schnell wieder. Auch das Sehvermögen kam genauso schnell zurück, wie es verschwunden war. Eine Diagnose wurde nie gestellt, vieles spricht jedoch für eine dissoziative Störung, wo körperliche Symptome psychischen Ursprungs sind. Und Stress, Anspannung, Überforderung oder Konflikte können durchaus ein Auslöser sein. Noch häufiger sind somatoforme Störungen, bei denen die Funktion der Organe durch chronische Stressoren und seelische Belastung gestört sind und damit an körperliche Erkrankungen erinnern.
Beide Krankheitsbilder ähneln sich sehr stark, sind allerdings noch nicht überall präsent, wie Dr. med. Alexander Kugelstadt weiß. Er ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker, und sagt: „Zu einer modernen Diagnostik gehören immer beide Aspekte, die biologischen und psychosozialen. Ich weiß, dass das im Alltag vieler praktisch tätiger Ärzte noch nicht umsetzbar ist. Und der Wegweiser, ab wann das überhaupt möglich ist, kann ohnehin nur die Offenheit und Bereitschaft der Patientinnen und Patienten sein. Sie müssen sich nämlich möglichen seelischen Belastungen stellen und dafür in dem Moment stark genug sein. Ob das gelingt, hängt natürlich wieder von der Empathie des Behandlers ab, diese innere Verfassung auch ein bisschen nachspüren zu können.“
Ursprung in der Kindheit?
Neuste Forschung hat mittlerweile einen Zusammenhang zwischen somatoformen Störungen und (positiven) Bindungsaspekten in der frühen Entwicklung hergestellt, wobei letztere nicht verinnerlicht und abgespeichert werden konnten. „So entsteht eine gestörte Verarbeitung von Emotionen und Stresserleben“, erklärt Dr. med. Alexander Kugelstadt, Facharzt für psychosomatische Medizin. „Die körperlichen Aspekte von Gefühlen, also die im Körper spürbaren Qualitäten, bleiben dann später wie im Körper gefangen und werden von Betroffenen allenfalls in Form von Gedanken bewertet, dann oft in der Weise, dass eine Störung, Krankheit oder Belastung vorliegt – mein Körper funktioniert nicht richtig.“ Oder anders formuliert: Bei den Betroffenen herrscht eine gewisse Blindheit dafür, wie sie Gefühle erleben, die dann zur Fehlinterpretation von Körperregungen und damit nicht selten in die Erkrankung somatoforme Störung führt. Die wichtige Erkenntnis daran, sagt Kugelstadt: „Man kann gezielt psychotherapeutisch daran arbeiten, eigene mentale und emotionale Zustände besser zu entschlüsseln.“