Mit Big Data gegen Krebs

Im Rahmen eines europäischen Projekts werden derzeit riesige Mengen von Krebs-Daten neu ausgewertet. Die Forscher hoffen, auf diese Weise effizientere zielgerichtete Krebstherapien entwickeln zu können.
Illustration: Dominika Kowalska
Illustration: Dominika Kowalska
Mirko Heinemann Redaktion

Mit den molekular zielgerichteten Therapien ist die Krebstherapie in ein neues Zeitalter eingetreten. Bei bestimmten Krebsarten – etwa Leukämien - sind diese Therapien auch sehr erfolgreich. Sie haben verschiedene Ansätze: Medikamente sollen die Übertragung des Wachstumssignals verhindern, indem die Bindungsstelle, der Rezeptor, für den Wachstumsfaktor blockiert wird. Ein anderer Ansatz ist die Hemmung der biochemischen Signalwege in der Zelle, die durch Botenstoffe erfolgt. Wenn diese Signalwege gestört sind, können Zellen unkontrolliert wachsen.

Zum Einsatz gelangen derzeit Wirkstoffe, die Wachstumsrezeptoren auf der Zelloberfläche blockieren und die Zelle für das körpereigene Immunsystem markieren. So genannte Tyrosinkinasehemmer unterbrechen Signalwege innerhalb der Zelle. Die molekularen Ursachen von Fehlfunktionen der Signalübertragung sind das Angriffsziel dieser Krebsmedikamente. Das Problem ist, dass die Behandlung auf die Zielstruktur in den Krebszellen individuell abgestimmt werden muss. Die zielgerichtete Therapie ist damit teuer – und zudem häufig unwirksam.

„Wir werden in zehn, 15 Jahren vielleicht gar nicht mehr verschiedene Krebserkrankungen behandeln, sondern wir werden Erkrankungen in Abhängigkeit von den genetischen Veränderungen behandeln“, erklärt Professor Martin Dreyling, Onkologe und Hämatologe am Klinikum der Universität München. „Wir müssen dazu nicht nur genetische Veränderungen untersuchen, sondern auch die Mechanismen dahinter. Um diese Muster der Veränderungen zu erkennen, brauchen wir möglichst große Datenmengen.“

Deshalb werden im Rahmen eines neuen Forschungsprojekts riesige Datenmengen aus der klinischen Forschung zu Blutkrebserkrankungen aufbereitet und mittels Big-Data-Analyse erneut ausgewertet. Auf diese Weise sollen neue Ansatzpunkte zur Behandlung von Blutkrebs gefunden werden. „Harmony“ heißt das Projekt, das im Januar gestartet ist und an dem 51 Partnerinstitutionen aus elf Nationen beteiligt sind. Es wird von der „Innovative Medicines Initiative“ (IMI) mit 40 Millionen Euro finanziert – einer Public-Private-Partnership-Organisation von der Europäischen Union mit dem Europäischen Verband der Pharmazeutischen Industrie.

Martin Dreyling koordiniert das Teilprojekt zum Lymphomschwerpunkt, um gezielte Therapien gegen diese Erkrankungen zu entwickeln. Insgesamt werden anonymisiert Patientendaten von zahlreichen europäischen Studiengruppen gesammelt und integriert, analysiert, um wertvolle Erkenntnisse über komplexe Blutkrebs-Arten zu erhalten: Dazu zählen die multiple Myeloische (MM), akute myeloische Leukämie (AML), die akute lymphatische Leukämie (ALL), die chronische lymphatische Leukämie (CLL), das Non-Hodgkin-Lymphom (NHL), myelodysplastische Syndrome (MDS) und die pädiatrischen hämatologischen Neoplasien (HM). „Ziel ist es, zum einen die Krebszellen wirkungsvoll zu bekämpfen. Außerdem wollen wir erreichen, dass Patienten weniger Nebenwirkungen in Kauf nehmen müssen“, so Dreyling.

Der paneuropäische Zusammenschluss von Forschungseinrichtungen ermöglicht Experten des Harmony-Projektes nun, auf bis zu 50.000 anonymisierte Patientenakten zuzugreifen. Sie wollen herausfinden, was Patienten gemeinsam haben, bei denen eine Krankheit ähnlich verläuft, und genetische Bio-marker zu identifizieren. Die Daten wurden in den letzten fünf Jahren erhoben. Mit Hilfe spezieller Algorithmen werden sie analysiert und auf bislang unerkannte Zusammenhänge untersucht. „Das reicht noch tiefer als auf die Ebene der DNA“, so Dreyling. „Wir gehen bis in die Expressionsmuster hinein mit der Frage: Wann werden bestimmte Signalwege an- und wann werden sie abgeschaltet?“

Die Daten kommen von den rund 50 beteiligten Studiengruppen, an denen wiederum viele Mediziner und Institutionen beteiligt sind. „Big Data heißt nicht allein, dass wir große Datenmengen sammeln und sie irgendwo einspeisen. Es kommt auch auf die Qualität der Daten an“, so Dreyling. Und die werde durch die beteiligten Institutionen gewährleistet. So besteht allein die deutsche Lymphom-Studiengruppe aus 300 bis 400 klinischen Institutionen. „Diese Gruppen decken die nationalen Versorgungsinstitutionen weitgehend ab.“ Die anonymisierten Daten werden in einer Datenbank an der Universität von Bologna in Norditalien gesammelt. Dort werden sie gebündelt und durchlaufen dann verschiedene Algorithmen.

Wichtig ist Dreyling zu betonen, dass die Pharmaunternehmen mit ihrer Beteiligung keine Exklusiv-Rechte an Daten oder Ergebnissen erwerben. Dass das Konsortium so breit sei, habe mit der Komplexität der Erkrankung, der Forschung und der komplexen Zulassung von Pharmazeutika zu tun. Daher sei es wichtig, dass im Projekt wichtige Stakeholder im klinischen und akademischen Bereich sowie in regulatorischen, wirtschaftlichen, ethischen und pharmazeutischen Bereichen vereint seien. „Alleine können wir es nicht schaffen“, sagt Dreyling.

Mit „Harmony“ soll mittelfristig eine Plattform für den Datenaustausch geschaffen werden, die Klinikern und nationalen und europäischen Institutionen die Zusammenarbeit erleichtert. Ein Netzwerk soll entstehen, das die gesamte europäische Forschungslandschaft in der Hämatologie umfasst. Das Projekt ist mit seiner Förderungsstruktur zwar erst einmal auf eine Laufzeit von fünf Jahren begrenzt. „Unsere Hoffung ist aber, dass wir hier etwas Dauerhaftes schaffen“, so Dreyling. Ein Anfang ist jedenfalls gemacht.

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