Herr Münch, warum löst eine Krebsdiagnose derart große Ängste aus?
Solange wir Menschen keine existenziell bedrohliche Erfahrung gemacht haben, sind wir gut darin, den Gedanken emotional wegzuschieben, dass es im Leben keine Sicherheit gibt – außer der, dass wir alle irgendwann sterben müssen. Sobald wir aber diese existenzielle Erfahrung machen, funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr. Krebs steht als Begriff in der allgemeinen Auffassung für potenzielles Leiden, für einen Kampf, der oft nicht gewonnen werden kann. Für die Angst zu leiden, dahinzusiechen, zu sterben.
Wie können Patienten und Angehörige mit dieser Angst umgehen?
Es ist wichtig, das Gehirn in einem arbeitsfähigen Zustand zu halten. Angst bewirkt das Gegenteil: Logisches und rationales Denken sind nicht oder kaum möglich. Das ist problematisch, weil in der Situation der Erkrankung viele Entscheidungen zu treffen sind. Es geht zudem um Sachverhalte, mit denen Betroffene nicht vertraut sind. In dieser Situation ist es wichtig, sich Zeit für Entscheidungen zu nehmen – selbst wenn es eigentlich schnell gehen müsste. Solange es keine akut lebensbedrohliche Situation gibt, sollte man sich immer mindestens ein paar Tage Zeit nehmen, über eine Entscheidung nachzudenken und sich hilfreichen Rat einholen.
Was, wenn ich in dieser Situation nicht weiterkomme?
Dann sollten Betroffene und Angehörige fachliche Hilfe hinzuziehen. Es gibt an viele Orten Psychoonkologinnen und Psychoonkologen, die dafür zur Verfügung stehen, in den Kliniken, aber auch ambulant in Beratungsstellen. Sie können helfen, einen Umgang mit der Angst zu finden, damit man wieder Boden unter den Füßen spürt. Bei Angst hilft nicht, sie zu vermeiden oder über sie hinwegzusehen. Hilfreich ist es, sich die Angst genauer anzuschauen, auch mit Unterstützung. Wenn ich der Angst Struktur geben kann, dann kann ich daran arbeiten. Ansonsten bleibt sie diffus und wird eher größer als kleiner.
Wie können Mediziner, deren Zeit häufig knapp ist, den Ängsten ihrer Patienten begegnen?
Dafür sorgen, dass sich Erkrankte und Angehörige auch in ihren Sorgen, Nöten und Zweifeln gesehen und ernst genommen fühlen. Selbst, wenn ich als Arzt oder Ärztin partout keine Zeit habe, kann ich dieses Dilemma transparent machen und gemeinsam nach einer für den Moment hilfreichen Lösung suchen – etwa hinzuziehen von Fachkräften, den Besuch einer Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe empfehlen. Wichtig ist, dass sich die Betroffenen nicht als Nummer fühlen.
Dazu kommt ein gesellschaftliches Stigma, das mit dem Begriff „krebskrank“ einhergeht. Wie geht man damit um?
Wenn die Erkrankung offensichtlich ist, wenn Erkrankte aufgrund einer Chemotherapie etwa Haarausfall haben, dann erleben Menschen Ausgrenzung oder fühlen sich komisch angeschaut. Wie sie damit umgehen, ist eine Frage des Selbstbewusstseins, das individuell unterschiedlich ausgeprägt ist. Daran lässt sich aber arbeiten. Wenn man ihnen die Erkrankung nicht ansieht, ist das eher eine Frage, wem ich welche Informationen gebe. Die Entscheidung, inwieweit sie im Freundeskreis oder im Kollegium von ihrer Erkrankung erzählen, muss dann jeder und jede selbst treffen. Die zentrale Frage ist: Kostet es mehr Kraft, es für sich zu behalten oder kostet es mehr Kraft, sich wenig hilfreichen bis ungünstigen Reaktionen zu erwehren, wenn man es erzählt hat?