Medizinische Versorgung wird effektiver

Das Coronavirus hat die Digitalisierung im Gesundheitswesen beschleunigt – aber auf manchen Feldern hinkt das deutsche Gesundheitssystem noch hinterher.
Illustration: Malcolm Fisher
Philipp Grätzel Redaktion

Schon bevor das SARS-CoV-2-Virus die Welt heimsuchte, war klar, dass das Jahr 2020 für die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens ein entscheidendes Jahr werden würde. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte im Jahr zuvor eine ganze Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht, die unter anderem darauf abzielten, dass Bürgerinnen und Bürger elektronische Patientenakten nutzen können, dass die Telemedizin vorangebracht wird, dass elektronische Rezepte möglich und digitale Gesundheitsanwendungen in der regulären Versorgung erstattet werden.


Die meisten dieser Anwendungen erfordern, dass medizinische Einrichtungen – Arzt- und Psychotherapiepraxen, Apotheken, Krankenhäuser, aber auch Physiotherapiepraxen, Sanitätshäuser und viele weitere mehr – an ein sicheres, elektronisches Kommunikationsnetz angeschlossen werden. Dies Netz existiert in Deutschland bereits. Es heißt „Telematikinfrastruktur“, aber bisher wird es fast nur zur Aktualisierung der Stammdaten auf den elektronischen Gesundheitskarten in den Kartenlesegeräten der Arztpraxen genutzt. Patienten kommen de facto noch nicht vor.


Das sollte sich ändern, und 2020 war dafür als Schlüsseljahr vorgesehen. Dann kam das Coronavirus, und plötzlich änderten sich erst einmal ein paar andere Dinge. So wurde Anfang März schlagartig allen klar, dass ärztliche und therapeutische Videosprechstunden in einer Art antiviralem Doppelschlag sowohl die Infektionsrisiken stark senken als auch dazu beitragen können, eine halbwegs normale Versorgung von Nicht-Corona-Patienten aufrechtzuerhalten. Die Kardiologen der Charité Berlin beispielsweise haben innerhalb kürzester Zeit ihr existierendes Telemedizinzentrum in die Pflicht genommen und dort jene Patienten telemedizinisch betreut, bei denen Operationen an den Herzklappen verschoben werden mussten.


Videosprechstunden für alle?


Auch Patienten, die in normalen Zeiten wegen einer Überwachung des Herzrhythmus stationär aufgenommen worden wären, werden seither oft telemedizinisch betreut: „Viele erkennen jetzt, dass wir einen wichtigen Beitrag leisten. Insgesamt ist die derzeitige Situation ein Riesenschub für die Telemedizin in der Kardiologie“, sagt der Telemedizinexperte der Charité, Prof. Friedrich Köhler. In der ambulanten Versorgung passierte ganz Ähnliches: Ärztinnen und Ärzte, die jahrelang Videosprechstunden eher skeptisch beäugt hatten, standen bei Anbietern wie Kry, TeleClinic, RED Medical, Samedi, CompuGroup Medical, Doctolib und anderen plötzlich Schlange. Allein im März meldeten fast 20.000 Arztpraxen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen neu die Nutzung von Videosprechstunden an – zehnmal so viel wie im Januar und Februar zusammen.


Tatsächlich genutzt wurden die Videosprechstunden allerdings nicht ganz so häufig, wie mancher vielleicht angenommen oder gehofft haben mochte. Offizielle Zahlen dazu wird es erst im Sommer geben. Aber im aktuellen EPatient Survey der Analysten von EPatient Analytics gaben nur zwei Prozent der knapp 10.000 im März und April Befragten an, dass sie schon Videosprechstunden genutzt hätten. Diese Zahl ist zwar dreimal so hoch wie im Vorjahr, aber angesichts der COVID-19-Pandemie dennoch insgesamt eher niedrig. Bei den Gesundheits-Apps sieht es etwas besser aus: Eine aktuelle Analyse der Wirtschaftsberatungsgesellschaft PwC zeigt, dass es in Deutschland jetzt 20,4 Millionen Nutzer von Digital-Health- und Fitness-Apps gibt, nach 17,6 Millionen im Vorjahreszeitraum.


Wann kommt das elektronische Rezept?


Eines der Probleme speziell bei den Videosprechstunden ist, dass es in Deutschland in der Fläche nach wie vor keine elektronischen Rezepte gibt. Dazu müssten nicht nur, wie schon geschehen, die Arztpraxen, sondern auch die Apotheken an die Telematikinfrastruktur angeschlossen werden. Diese Baustelle konnte auch das Coronavirus nicht über Nacht beseitigen. Immerhin: Die Apotheker und die Krankenkassen haben sich mittlerweile auf eine Finanzierung der Apothekenanbindung geeinigt. Auch die nötigen digitalen Heilberufs- und Institutionsausweise für die Apotheken stehen bereit. Ende des Jahres könnten große Teile der deutschen Apothekenlandschaft online sein.


Zudem will die gematik, die Betreiberorganisation der Telematikinfrastruktur, bis Ende Juni die technischen Details zum eRezept vorlegen. Ein Konzept gibt es bereits: Es soll eine einheitliche Rezept-App eingeführt werden, die es jeder Bürgerin und jedem Bürger erlauben würde, elektronische Rezepte beliebig weiterzuleiten, ganz so wie bei Papierrezepten. Diese App, das besagt das noch nicht abschließend verabschiedete Patientendatenschutzgesetz (PDSG), soll die gematik bis zum 30. Juni 2021 entwickeln. Danach könnte das eRezept dann zügig genutzt werden.


Wer die App verwenden will, erhält demnach vom Arzt – ob in der Praxis oder über Telemedizin – einen Code, der auf den Speicherort des entsprechenden Rezepts verweist. Der Code kann dann zum Beispiel an eine Versandapotheke weitergeleitet werden. Es soll auch möglich werden, online zu überprüfen, ob eine Apotheke ein rezeptiertes Medikament gerade vorrätig hat oder nicht. Geht es nach Spahn, dann könnte das eRezept ab Januar 2022 in Deutschland verpflichtend sein. Auch das steht im Kabinettsentwurf des PDSG. Dagegen gibt es allerdings Widerstand aus mehreren Fraktionen des Deutschen Bundestags, sodass offen ist, ob die eRezept-Pflicht wirklich kommt.


Das eRezept ist ohnehin erst die überübernächste Anwendung des digitalen Gesundheitswesens in Deutschland. Deutlich früher, nämlich schon Anfang Juli 2020, sollen Ärzte anfangen, elektronische Arztbriefe zu verschicken. Dafür wird gerade ein sicherer E-Mail-Dienst erprobt, KIM genannt. Eine ganze Reihe von Unternehmen, darunter die CompuGroup, die Telekom, RISE, Akquinet und Secunet/eHealth Experts/DGN, stehen in den Startlöchern. Bis Ende 2020 wird sich voraussichtlich ein Großteil der niedergelassenen Ärzte in Deutschland für einen KIM-Anbieter entschieden haben müssen. Denn ab dem 1. Januar 2021 können Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) nur noch elektronisch über KIM an die Krankenkasse übermittelt werden. Anders als der Arztbrief ist die AU eine echte Massenanwendung, die jede Arztpraxis beherrschen muss: 70 bis 80 Millionen AUs werden in Deutschland pro Jahr von niedergelassenen Ärzten ausgestellt.


Elektronische Patientenakte gegen Pandemie


Der 1. Januar 2021 ist auch der Termin, ab dem alle gesetzlich Krankenversicherten ein Anrecht auf eine elektronische Patientenakte (ePA) haben sollen. Krankenkassen müssen ihren Versicherten dann entsprechende Akten anbieten. Anbieter wie IBM und RISE sind hier als technische Partner ganz vorn dabei. In diesen Akten, die unter anderem über eine Handy-App nutzbar sein sollen, können Versicherte zum einen eigene Dokumente, etwa ein EKG der Smartwatch, ablegen und dem Arzt zugänglich machen. Zum anderen müssen niedergelassene Ärzte und auch Krankenhäuser nach einem Übergangszeitraum gewährleisten, dass relevante Behandlungsdokumente in die ePA eingestellt werden, sofern der Versicherte das möchte.


Um die ePA hatte es im Sommer 2019 Diskussionen gegeben. Das Patientendatenschutzgesetz ist eine Folge davon. Es besagt nicht nur, dass die ePA für die Bürger freiwillig ist, sondern auch, dass jede und jeder Einzelne detailliert regeln darf, welche ePA-Dokumente für welchen Arzt oder welche anderen medizinischen Berufsgruppen zugänglich sein sollen. In der ersten ePA-Version Anfang 2021 wird es dafür Daten-Container mit unterschiedlichen Zugriffsrechten geben. Ab 2022 fordert das Gesetz dann von den ePA-Anbietern ein detailliertes Rechtemanagement. Erfahrungen aus Ländern wie Österreich zeigen allerdings, dass nur ein geringer Anteil der Versicherten und Patienten die Zugriffsrechte in einer ePA beschränkt. Die meisten machen ihre Dokumente allen Ärzten zugänglich.


Dass die medizinische Versorgung während einer Pandemie effektiver und für alle Beteiligten komfortabler würde, wenn jeder Bürger eine elektronische Patientenakte hätte, auf die auch ein Video-Arzt zugreifen könnte, ist unstrittig. Was die COVID-19-Pandemie aber auch gezeigt hat ist, dass es noch an vielen anderen Stellen des Gesundheitswesens ganz fundamentalen digitalen Nachholbedarf gibt. Besonders deutlich wird das aktuell bei den Gesundheitsämtern, die dafür zuständig sind, infizierte Menschen zu betreuen und ihre Kontaktpersonen nachzuverfolgen.

 


Afrika als Vorbild


Knapp 400 Gesundheitsämter gibt es in Deutschland, und fast alle nutzen für die Nachverfolgung von Infizierten und ihren Kontaktpersonen Excel-Tabellen. Mehr noch: Die Kommunikation mit den Labors läuft per Fax. Die Werte werden händisch in die Excel-Tabellen übertragen und dann noch, ebenfalls händisch, in das mittlerweile fast zwanzig Jahre alte Infektionsmeldesystem SurvNet des Robert Koch-Instituts (RKI) getippt. Wie es besser geht, zeigt der Blick nach Afrika, wo in den Ebola-Regionen die staatlichen Stellen untereinander digital vernetzt sind und zusätzlich mit professioneller Ausbruchs-Software arbeiten, die dort jetzt auch für das COVID-19-Management genutzt wird.


Damit Deutschland nicht mehr neidisch nach Afrika schauen muss, werden jetzt auch hier zu Lande erste Gesundheitsämter mit Ausbruchs-Software ausgestattet. Ab Juni soll es auch Apps geben, über die die Ämter mit Infizierten und deren Kontaktpersonen kommunizieren können. Das könnte enorm viele Telefonanrufe ersetzen und würde die Mitarbeiter stark entlasten. Unabhängig davon wird seit 2017 das Deutsche Elektronische Meldesystem für Infektionskrankheiten DEMIS entwickelt, das das alte SurvNet ersetzen soll. DEMIS wird aber frühestens 2022 fertig sein, wie die Bundesregierung kürzlich in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der AFD mitteilte.


Immerhin: Die Labordatenschnittstelle von DEMIS soll jetzt vorgezogen werden. Sie könnte noch diesen Sommer fertig sein. Dazu kooperiert das RKI mit dem Fraunhofer FOKUS, und – da schließt sich der Kreis – auch die gematik ist mit im Boot. Denn auf Dauer soll für die DEMIS-Kommunikation die Telematikinfrastruktur genutzt werden, an die Arztpraxen und Labors ohnehin angeschlossen sind. Auch hier gilt: Das Coronavirus macht der medizinischen Digitalpolitik ordentlich Dampf.

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