Renaissance des Lokalen

Die Pandemie wirkt wie eine Fast-Forward-Taste für Visionen rund um die Zukunft des Wohnens. Welche Trends zu erwarten sind, weiß die Zukunftsforscherin Oona Horx-Strathern.
Illustration: Malcom Fisher
Illustration: Malcom Fisher
Klaus Lüber Redaktion

 

Frau Horx-Strathern, wir hatten uns vor etwas mehr als einem Jahr schon einmal über die Zukunft des Wohnens unterhalten. Damals standen wir heftig unter dem Schock der Pandemie und viele, auch Sie, prognostizierten tiefgreifende Veränderungen. Hat sich an Ihrer Einschätzung etwas geändert?

Nein. Ich glaube nicht, dass die Veränderungsdynamik sich entscheidend abschwächen wird, wenn wir die Pandemie hoffentlich bald überstanden haben.

Was macht Sie da so sicher?

Pandemien hatten schon immer einen gewaltigen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir als Menschen Wohnen und Stadtentwicklung gedacht haben. Die Spanische Grippe zum Beispiel war maßgeblich dafür verantwortlich, Hygienekonzepte grundlegend zu überdenken. Damals wie heute wirkt die Pandemie wie eine Art Fast-Forward-Button für eine echte Vision, wie wir in Zukunft in unseren Häusern und Wohnungen, in unseren Vierteln, Dörfern und Städten besser leben können.

Als einen wichtigen aktuellen Trend identifizieren Sie die Renaissance des Lokalen und der Nachbarschaft. Dabei wurde doch während der Lockdowns viel über die Wiederentdeckung des eigenen Zuhauses berichtet.

Das ist kein Widerspruch. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig unser Zuhause als selbst-gestalteter Ort des Rückzugs ist. Das ist ja ein fundamentaler humaner Instinkt, unser Heim erinnert uns daran, wer wir sind und was uns wichtig ist. Aber gleichzeitig ist uns auch bewusst geworden, wie essenziell die Verbindung nach außen ist. Der Kommunikationswissenschaftler Jeffrey Hall spricht in diesem Zusammenhang von einem Sozial-Biom als individuellem Öko-System der Beziehungen und Interaktionen.

Zu diesem Sozial-Biom zählt dann der Small Talk mit dem Nachbarn auf der Straße?

Ja, genau. Interessant dabei ist, dass wir schon lange wissen, dass das Wohlbefinden des Einzelnen nicht nur von der Qualität der Beziehungen zu engen Freunden und der Familie abhängt, sondern auch von einem losen Bekanntenkreis, den man nur selten oder flüchtig sieht. Dazu zählen beispielsweise lokale Ladenbesitzer, Spaziergänger mit Hund und Busfahrerinnen – also eine Vielzahl an Personen, mit denen man immer mal wieder einen Plausch hält. Die müssen wir genauso pflegen, damit es uns gut geht und wir in Krisenzeiten stark und resilient bleiben können.

Inwiefern beeinflusst dieser Trend das Wohnen?

Unter anderem dadurch, dass die Begeisterung für „smarte“ Technologien, die unser Leben prägen, gedämpft wird. In Toronto wurde unlängst ein groß angelegtes Smart-City-Projekt eingestellt, weil die Akzeptanz in der Bevölkerung viel geringer war als angenommen. Technologie allein, das merken wir auch in unseren Wohnungen, macht nicht glücklich. Eine Küche kann durch allerlei Gadgets aufgerüstet werden, aber den Spaß und die Zufriedenheit beim Selbst-Kochen nie ganz ersetzen. Das hat übrigens auch Einfluss auf die Wahrnehmung der Küche an sich.

»Die Küche hört auf, ein Statussymbol zu sein.«

Inwiefern?

Die Küche hört auf, ein Statussymbol zu sein, sie wird wohnlicher. Sie ist einfach der Ort, an dem vor allem gekocht und gebacken wird und immer weniger sonst passiert. Die britische Innenarchitektin Michelle Ogundehin glaubt, dass sich der Trend zur Multifunktionalität umkehrt, die Küche in Zukunft also weniger als Herz, sondern vielmehr als Motor des Hauses wahrgenommen wird.

Also weniger Spielsachen, Papierkram, Hausaufgaben und Laptops? Dabei haben wir doch genau das im Lockdown erlebt.

Ja, und es hat viele an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. Gerade weil wir jetzt wieder so viel über Homeoffices sprechen und ob sie nach der Krise bleiben oder wieder verschwinden werden: Wer ernsthaft von zu Hause aus arbeiten will, muss Zonen schaffen, in denen man konzentriert arbeiten kann. Und da ist der Küchentisch eben langfristig nicht die beste Lösung. Ganz generell geht es darum, eine neue körperliche und geistige Intimität zu entdecken, in der wir die Auswirkungen von „Technoference“ minimieren – dieses Gefühl, wenn Technologie die Kommunikation oder den Komfort stört.

Wird das Homeoffice sich Ihrer Meinung nach etablieren?

Ich glaube, diese Entwicklung ist nicht mehr umzukehren. Mehr als zwei Drittel der Berufstätigen in Deutschland, die Homeoffice bei ihrer Tätigkeit grundsätzlich für möglich halten, wünschen sich auch künftig mehr Arbeit von zu Hause. Dem sollten auch die Unternehmen Rechnung tragen, zum Beispiel in Form finanzieller Unterstützung bei der Anschaffung ergonomischer Büromöbel. Möglicherweise bietet das Homeoffice die Lösung für ein Problem, mit dem wir uns in der Arbeitswelt nun schon einige Zeit herumschlagen: die Dominanz wirtschaftlicher Rationalität und deren negativer Effekte auf die Psyche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Es gibt eine weitere interessante Entwicklung, die Sie prognostizieren. Und zwar das Revival von Balkon und Terrasse. Ist das aber nicht doch ein Trend, der in post-pandemischen Zeiten wieder verschwinden wird? Wenn einen die Angst vor Ansteckung nicht mehr zu Hause hält?

Nein, das glaube ich nicht. Natürlich war die Nutzung vor allem von Balkonen während der Lockdowns spektakulär: Konzerte, Modeschauen, Marathonläufe – es gab ja kaum etwas, was nicht möglich schien. Aber all das hat uns eine Zukunftsvision eröffnet. Und zwar zur Frage, wie wir Wohnungen in urbaner Dichte besser bauen können. In deutschen Großstädten besitzen lediglich 35 Prozent der Bewohner einen eigenen Garten. Fest steht: Die Nachrüstung von Balkonen und die verstärkte Nutzung privater Grünflächen im Freien sind Trends, welche die Pandemie überdauern werden.

Was die Krise sehr wahrscheinlich auch überdauern wird, ist die neue Liebe zu natürlichen Materialien, allen voran Holz.

Ja, da haben Sie recht. Und zwar auch deshalb, weil diese Entwicklung eingebettet ist in einen noch größeren Trend – den Megatrend Neo-Ökologie. Deshalb wird es beim Thema nachhaltiges Bauen in Zukunft auch nicht mehr nur um Authentizität und Qualität, sondern vermehrt um Aktivismus und Transformation gehen. Das Ziel ist es, nicht mehr nur nachhaltig zu bauen und zu wohnen, sondern dies im Sinne des sogenannten Cradle-to-Cradle-Prinzips, als einer echten Kreislaufwirtschaft, zu realisieren. Inzwischen gibt es zahlreiche Produkte rund ums Bauen und Wohnen, die nach diesem Kriterium zertifiziert sind: Das Angebot reicht von Fassadenfarben und Türen bis hin zu Baustoffen, Brandschutz, Parkett, Teppichfliesen und Heimtextilien.

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