Jetzt fängt das Leben nochmal an

22 Prozent der Menschen in Deutschland sind 65 Jahre alt oder älter. Damit gibt es mehr Menschen in dieser Altersgruppe als bei den unter 20-Jährigen. Wie lebt es sich hierzulande, wenn die 65 erst einmal erreicht sind? Was bringt das Leben noch – und wie gelingt ein zufriedenes Alter?

Illustration: Carina Crenshaw
Illustration: Carina Crenshaw
Jost Burger Redaktion

Wann ist ein Mensch alt? Die Weltgesundheitsorganisation WHO sagt: wer das 65. Lebensjahr vollendet hat. Eine rein biologische Definition, die aber nichts darüber aussagt, wie beziehungsweise was Alter eigentlich ist. Mancher mag schon seit Jahren auf die Rente „hingearbeitet“ haben, hat vielleicht die Möglichkeit der Frühpensionierung gewählt – und will jetzt nur noch seine Ruhe haben. Für andere beginnt jetzt noch einmal ein sehr aktiver Lebensabschnitt. Schließlich hat, wer heute 65 ist, statistisch gesehen noch 18 (Männer) bis 21 Jahre (Frauen) Leben vor sich.

Viele blühen oft noch einmal richtig auf: Ganz aus der Luft gegriffen sind ja die Bilder nicht, die Paare zeigen, deren weiße Haare am Strand im Wind wehen… Und manch ein Mitglied der „Gen Z“ oder ihrer Vorgänger, der Millenials, sieht mit Staunen, aber auch mit Bewunderung, wie die vermeintlich „alten“ Großeltern noch einmal richtig aufdrehen. Sie gehen auf Reisen, genießen Kultur, kümmern sich vielleicht auch um die Enkel – geben sie aber auch gerne wieder ab und widmen sich ihren eigenen Interessen.

Denn jetzt ist Zeit für lange vernachlässigte Hobbies, sogar Zeit, noch einmal Neues zu lernen – Klavierspielen, Italienisch, Kochen. Und für Sport: Laut Deutschem Olympischen Sportbund (DOSB) ist mehr als die Hälfte der 55 – 69-Jährigen regelmäßig körperlich aktiv. Leistungssport wird wohl kaum noch betrieben, aber auch Wandern, Spazierengehen, Schwimmen oder Radfahren gelten schließlich als Sport.

Ende des Arbeitslebens?

Und doch sind manche Dinge nun vorbei – vor allem das Arbeitsleben. Die Zeit Anfang, Mitte 60 fällt zumindest in Deutschland meist mit dem Rentenalter zusammen. Das Ende des Arbeitslebens kann für manche jedoch auch einen Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben bedeuten. Vielleicht fühlen sie sich schon seit Jahren auch im Job nicht mehr so gebraucht. Unterstützt wird das durch die nach wie vor existierende Tendenz, in der Arbeitswelt auf stets die neuesten Skills und Kompetenzen zu setzen. Doch das ist eine fatale Entwicklung – Lebenserfahrung und Wissen der „Alten“ sind nach wie vor gefragt, wie kluge Arbeitgeber so langsam auch zugeben. Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels stellt sich die Frage, wie ältere Menschen noch ins Arbeitsleben eingebunden werden können. Darüber macht sich zum Beispiel Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey, Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft an der Charité Berlin, Gedanken: „Unsere Forschungen zeigen, dass Kompetenzen von alt werdenden Menschen nicht verloren sind, weil sie nicht mehr da sind, sondern verloren gehen, weil sie nicht mehr abgerufen und trainiert werden.“ Das sei nicht zu verantworten, sagt Prof. Kuhlmey, und wünscht sich neue Arbeitsformen, die es auch jenseits der 65 möglich machen, über die Arbeit am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Zumal viele ältere Menschen selbst noch arbeiten wollen. Laut Statistischem Bundesamt waren 2022 immerhin knapp 13 Prozent der 65 – 75-Jährigen erwerbstätig, zehn Jahre zuvor lag dieser Wert noch bei sieben Prozent. Das mag bei manchem auch zur Aufbesserung der Rente dienen, viele dürften sich aber einfach noch zu jung fühlen, um Stift oder Feile fallen zu lassen.

Mehr Entbehrung bei jungen als bei älteren Menschen

Apropos Finanzen: Viel ist zu lesen von grassierender Altersarmut. Je nachdem, welche Statistik man zu Rate zieht, ist diese Aussage so pauschal aber nicht zu halten – zumindest, wenn man nicht auf die reinen Einkommenszahlen schaut. Ein wichtiger Indikator ist in der Soziologie das Konzept der materiellen und sozialen Entbehrung. Dabei geht es um Dinge, die zum allgemeinen Lebensstandard gehören, auf die aber aus finanziellen Gründen verzichtet werden muss. Konkret zum Beispiel, ob eine Person einmal im Monat mit Freunden ausgehen kann oder sich ein Haushalt einmal im Jahr Urlaub leisten kann. Und da sagen die Zahlen des statistischen Bundesamtes ganz klar: Erhebliche materielle und soziale Entbehrung gibt es bei älteren Menschen seltener als bei jungen. Von ihr betroffen waren im Jahr 2021 durchschnittlich 4,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Bei den 65-Jährigen und Älteren lag der Anteil bei 2,6 Prozent. In der Altersgruppe über 75 betrug der Anteil 1,7 Prozent.

Im Alter steigt die Zufriedenheit

Viel wichtiger ist vielleicht die große Frage: Wie zufrieden sind eigentlich ältere Menschen? Und welche Faktoren tragen zur Zufriedenheit bei? Mit dieser Frage beschäftigt sich unter anderem die Zufriedenheitsforschung, die von Soziologen, Psychologen und Medizinern betrieben wird. Und praktisch in jeder Studie zum Thema findet sich ein Phänomen bestätigt, das Forscherinnen und Forscher die „U-Kurve der Lebenszufriedenheit“ nennen. Diese U-Kurve beschreibt, dass die Zufriedenheitswerte zumindest in hochentwickelten, westlichen Gesellschaften in der Regel zwischen Mitte 30 und Mitte 40 am höchsten sind, um dann zunächst abzufallen. Doch ab Mitte 60 steigt die Zufriedenheit wieder auf fast dasselbe Level. In einer breit angelegten Altersstudie aus dem Jahre 2017 im Auftrag der Generali Versicherung etwa gaben von den über 4.000 befragten Personen zwischen 65 und 85 Jahren 85 Prozent an, sie seien zufrieden oder sogar sehr zufrieden mit ihrem Leben. Die U-Kurve bestätigt auch eine Studie der Universität Leipzig von 2020. Sie stellt zudem statistische Zusammenhänge der Zufriedenheit im Alter unter anderem mit einem guten Einkommen, einer stabilen Wohnsituation oder dem Vorhandensein einer Partnerschaft her. Andere Forschungen verweisen auf hormonelle Vorgänge im Gehirn, die uns im Alter wenn schon nicht überschießend-glücklich wie in jungen Jahren machen, aber doch ruhig und zufrieden. Ein Blick in viele Studien zeigt aber auch noch andere Faktoren, die im Alter für Zufriedenheit sorgen. Freundschaften pflegen, sich regelmäßig bewegen und lustvollen Aktivitäten nachgehen, genug schlafen und sich ausgewogen ernähren – all das trägt zum Wohlbefinden älterer Menschen bei. Kurz: Die Lebenszufriedenheit hängt vom eigenen Tun ab.

Illustration: Carina Crenshaw
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Altersweisheit finden, auf Erreichtes stolz sein

Die Lebenserfahrung vieler älterer Menschen sagt aber auch: Im Alter blicken wir auf vieles gelassener. Vieles wird nicht mehr als so „groß und wichtig“ wahrgenommen. Und beeinträchtigt unsere Leben weniger. Nicht umsonst sprechen wir von Altersweisheit. Die können wir uns erarbeiten. So sprach auch der amerikanische Psychologe Erik H. Erikson von Weisheit. Er entwickelte bereits in den 1950er Jahren sein „Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung“. In der achten und letzten Phase des Lebens, dem „reifen Erwachsenenalter“, gehe es darum, das bisherige Leben mit all seinen Erfolgen und Misserfolgen anzunehmen und sich mit sich selbst auszusöhnen. So gelinge letztendlich auch innerer Frieden – und Zufriedenheit.

Übrigens: In diesem Zusammenhang hilft auch ein Blick auf die Leistungen, die jene erreicht haben, die heute als „alt“ gelten. Nach dem Krieg galt es, das Land wieder aufzubauen, Deutschland wieder zu einem respektierten Mitglied der Weltgemeinschaft zu machen. Die 1960er- und 1970er-Jahre brachten Toleranz und Offenheit in die Welt.

Und die Erfindungen, die unser Leben heute prägen, stammen nicht von Menschen, die ab dem letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts geboren wurden. „Heim-Computer“, das Internet, Smartphones – die digitale Revolution wurde von denen getragen, die von den heute Jungen bestenfalls belächelt, im schlechten Fall für alle Probleme dieser Welt verantwortlich gemacht werden. Sich diese Generationsleistungen bewusst zu machen, dürfte zur Zufriedenheit vieler Älterer auch mit Blick auf das persönliche Leben beitragen.  
 
Was das Leben jetzt fordert

Ein gelassener Blick hilft auch, sich mit der eigenen Vergänglichkeit auseinanderzusetzen und dem, was nach dem eigenen Tod kommt. Vielen fällt das schwer. Doch ist es nicht ein beruhigendes Gefühl, die letzten Dinge geregelt zu haben? Dazu gehört, sich rechtzeitig ums Testament zu kümmern, Vollmachten zu vergeben, eine Übersicht der Passwörter und Kontoinformationen anzulegen. Die Zeit ab 65 ist aber auch die Zeit, über Geld nachzudenken. Wer soll das Vermögen bekommen? Soll das Vermächtnis an die Familie gehen, gibt es vielleicht andere Wege, das zu verteilen, was man im Leben erschaffen hat?

Auch über die Wohnsituation will rechtzeitig nachgedacht werden. Die meisten Menschen möchten möglichst lange autark sein und in ihrer vertrauten Umgebung leben. Dabei hilft die Technik – Treppenlifte, Badewannen mit Einstiegshilfen, aber auch digitale Systeme, die bei einem Unfall automatisch Hilfe rufen. Dennoch ist es sinnvoll, nicht erst im hohen Alter über eine Veränderung der Wohnsituation nachzudenken. Tut es auch eine kleinere Wohnung? Soll das Haus schon zu Lebzeiten verkauft werden? Welche Altersheime, welche Seniorenresidenzen kommen in Frage?

Und es ist eine Binse, dass ältere Menschen besonders auf ihre Gesundheit achten sollten. Augen, Gelenke, Gehör und Kreislauf sind nicht mehr wie bei 25-Jährigen. Umso wichtiger ist neben regelmäßiger Bewegung eine gesunde, ausgewogene Ernährung, die auf die speziellen Bedürfnisse älterer Menschen eingeht. Auch jetzt lohnt es sich noch, mit dem Rauchen aufzuhören. Vorsorgeuntersuchungen sollten wahrgenommen werden – und die Möglichkeiten der modernen Medizin genutzt werden, für ein langes, gesundes und zufriedenes Leben zu sorgen.

Wir haben es in der Hand

Fazit: „Das“ Alter gibt es nicht. Die Frage, was Altsein bedeutet, ist nur biologisch eindeutig zu beantworten. Wie sich das Alter gestaltet, ist höchst individuell, zeigt große Vielfalt, und ist bei vielen Menschen von Zufriedenheit geprägt. Wie groß diese ist – das haben wir selbst in der Hand. 

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