Home Sweet Home-office

Neue Arbeitskonzepte bekommen durch Corona einen Schub. Allerdings sind die eigenen vier Wände nicht überall für Heimarbeit ausgerichtet. Das führt zu einer ungeahnten Kreativität und sogar zu Verschiebungen am Immobilienmarkt.
Illustrationen: Merle Schewe
Illustrationen: Merle Schewe
Julia Thiem Redaktion

Dr. Gretchen Goldman ist Research Director am US-amerikanischen Center for Science and Democracy der Union of Concerned Scientists. Sie ist eine gefragte Expertin und im September mit einem Tweet vermutlich zur Heldin zahlreicher aus dem Homeoffice arbeitender Mütter und Väter mit Doppelbelastung geworden. Denn nach einem Interview mit dem US-Sender CNN hat Goldman auf Twitter ein Foto veröffentlicht, das den Ausschnitt, den die Fernsehzuschauer von ihr sahen, der Realität gegenüberstellt. Während sie mit einem Setup aus zwei Stühlen Laptop und schickem Blaser „obenrum“ aufgeräumt und alles im Griff zu haben scheint, herrscht „untenrum“ das reinste Chaos: keine Hose, Kinderspielzeug überall, von einem vernünftigen Arbeitszimmer keine Spur. Diese schonungslose Offenheit wurde mit über 300.000 Likes und mehr als 40.000 Retweets honoriert.

 

Auch wenn sich die wenigsten so ehrlich zeigen würden wie Goldman in ihrem Tweet, der Großteil der Deutschen im Homeoffice arbeitet derzeit wohl ebenfalls eher unter solch provisorischen Bedingungen. Die wenigsten haben in ihren eigenen vier Wänden die Möglichkeit, sich einen adäquaten Arbeitsplatz einzurichten. Entweder es wird improvisiert wie bei Goldman oder aber die Kollegen bekommen im Videocall einen unfreiwilligen Einblick ins Schlafzimmer, sehen die angefangene Weinflasche im Hintergrund stehen oder wahlweise die Kinder, den Lebenspartner oder das Haustier durch das Bild laufen. Oder aber, was der Autorin kürzlich selbst passiert ist: Es klingelt, die Freundin des Interviewpartners öffnet die Haustür und nimmt freudestrahlend ein wirklich riesiges Zalando-Paket vom Paketdienst entgegen. Was die ebenfalls im Call befindlichen Kollegen natürlich amüsiert kommentierten.

 

Wie gelingt der Spagat?

 

Die Corona-Pandemie hat definitiv einen Wandel eingeleitet, was neue Arbeitskonzepte wie das Homeoffice angeht und verleiht dem Konzept New Work einen regelrechten Schub – auch wenn es an vielen Stellen noch nicht ganz so rund läuft. Das bestätigt auch Dr. Anita Tisch. Sie ist Gruppenleiterin „Wandel der Arbeit“ bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und sagt: „Die Pandemie hat in der Tat einige aktuelle Diskussionen um den Wandel der Arbeit nochmals verdeutlicht. Das betrifft neben digitalen Formaten der Zusammenarbeit und dem viel besprochenem Homeoffice zum Beispiel auch die Frage nach dem Sinn und Stellenwert von Arbeit, nach Möglichkeiten, private und berufliche Anforderungen in Einklang zu bringen.“

 

Genau das versucht derzeit etwa die Hälfte der Büroarbeitenden in Deutschland: private und berufliche Anforderungen unter einen Hut zu bringen. Dabei sind es vor allem die räumlichen Einschränkungen, die große Herausforderungen mit sich bringen, wie Pia A. Döll unterstreicht. Die Frankfurter Innenarchitektin und Präsidentin des Bunds deutscher Innenarchitekten (bdia) weiß, dass es gerade für Familien zur Herausforderung wird, wenn beide Partner plötzlich ins Homeoffice geschickt werden und auch die Kinderbetreuung noch zu regeln ist: „Der Großteil derjenigen, die kurzfristig aus dem Homeoffice arbeiten müssen, sitzt tatsächlich auf der Couch oder am Küchentisch. Ideal ist das natürlich nicht. Nur steht den wenigsten ein eigenes Arbeitszimmer zur Verfügung und wenn doch, ist dort meist nur für einen Partner Platz. Der Andere muss sich eine alternative Lösung überlegen, was meist eben nur ein Kompromiss ist.“

 

Kompromiss auch deshalb, weil ein abgeschlossener Raum natürlich eine ganz andere Arbeitsatmosphäre schafft. Dort ist man ungestört, kann sich ausbreiten und hat in der Pause, beispielsweise beim Kochen, nicht auch auf dem Küchentisch die ganze Zeit die Arbeit im Blick. Auch für Dr. Anita Tisch ist das ein wichtiger Aspekt: „Wir wissen, dass insbesondere im Homeoffice oftmals länger gearbeitet wird als vertraglich vereinbart, viele Überstunden gemacht werden und Pausen- sowie Ruhezeiten nicht eingehalten werden. Dies führt zu einer Entgrenzung von Arbeit und Privatleben und kann sich negativ auf die Erholung auswirken. Deshalb ist es wichtig, auch hier klare Regeln aufzustellen.“

 

New Work braucht New Normal

 

Klare Regeln und vielleicht auch ganz neue Routinen. Beispielsweise muss für eine Mittagspause schon alleine deshalb mehr Zeit eingeplant werden, weil das Essen zu Hause erst noch zubereitet werden will. Man kann sich aber natürlich auch virtuell mit den Kollegen und Kolleginnen zum Lunch verabreden, sich gegenseitig mit neuen Gerichten inspirieren und damit den so wichtigen informellen Austausch trotz Home-office weiterführen. Das bestätigt auch Frau Tisch von der BAuA. Für sie ist es daher sowohl eine Frage des Ausmaßes als auch der Gestaltung, ob und in wie weit das Homeoffice zur Belastung wird. „Je mehr von Zuhause aus gearbeitet wird, umso höher ist das Risiko, dass soziale Kontakte und damit auch die soziale Unterstützung durch Vorgesetzte sowie Kolleginnen und Kollegen leiden. Ein stückweit kann das durch den virtuellen Austausch kompensiert werden – allerdings ist das Telefon oder der Videocall keinesfalls ein vollständiger Ersatz für persönlichen Austausch. Insbesondere die informelle Kommunikation, also Gespräche auf dem Flur oder an der Kaffeemaschine, leidet.“

 

Innenarchitektin Pia A. Döll sieht zudem auch die Arbeitgeber in der Pflicht, langfristig nachzubessern, um eine regelmäßigere Heimarbeit zu ermöglichen. Denn die zeichne sich ja immer mehr ab: „Es braucht funktionale Raumkonzepte und neu gestaltete Arbeitsplätze, um die Qualität des Homeoffice zu verbessern. Fehlt das extra Arbeitszimmer, können Raumteiler, ausklappbare Möbel oder Wandbespannungen für eine bessere Akustik Abhilfe schaffen. Letztendlich braucht die Belegschaft hier aber immer die Unterstützung des Arbeitgebers – der eigentlich den Arbeitsplatz in der Immobilie einspart und diesen räumlich sowie kostentechnisch zum Arbeitnehmer hin verlegt.“

 

Und auch am Immobilienmarkt sind die Auswirkungen der neuen Arbeitskonzepte zu spüren, wie Carolin Hegenbarth, Bundesgeschäftsführerin des Immobilienverbands Deutschland (IVD) unterstreicht: „Die Pandemie beschleunigt den Trend zur Suburbanisierung. Waren es vorher vor allem junge Familien mit Kindern, die in ländlicheren Regionen mehr Freiraum, Sicherheit und bezahlbaren Wohnraum suchten, hat das Umland durch Quarantäneerfahrungen, Ausweitung von Homeoffice und flexibleren Arbeitsplatzmodellen allgemein an Zuspruch gewonnen. Wir erwarten, dass dieser Trend anhalten wird.“

 

Wer es sich also leisten kann, zieht um – in eine größere Wohnung mit extra Arbeitszimmer oder gleich in ein Haus im „Speckgürtel“ der Großstadt. Das schafft mehr Freiraum und wird vermutlich langfristig flexible Arbeitsbedingungen verbessern. „Eine gute Nahverkehrsanbindung ist allerdings nach wie vor ein wichtiges Kriterium für suburbane Immobilien“, betont Hegenbarth. Denn ganz ohne Büro wird die Arbeitswelt der Zukunft wohl nicht auskommen. Zwar sei derzeit ein konjunktureller Rückgang bei Büroimmobilien zu spüren. Hier glaubt Hegenbarth hingegen nicht an einen nachhaltigen Trend: „Flexiblere Arbeitsplatzmodelle bedeuten nicht zwangsläufig, dass künftig niemand mehr im Büro arbeiten wird. Im Gegenteil: Wir können uns vorstellen, dass Unternehmen sogar größere Flächen anmieten oder erwerben, um mehr Platz für die Belegschaften zu haben und Abstandsregeln besser einhalten zu können.“

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