Ruf nach Nützlichkeit

Kunst hatte schon immer das Potenzial, unsere Gesellschaft zu reflektieren und auf ihre Schwachstellen hinzuweisen. Nun tritt sie immer öfter selbst als politischer Akteur auf den Plan
Bergungsarbeiten auf dem Fluss Lethe (2009) – Aktivistin des Zentrums für Politische Schönheit bei einer Aktion zum Gedenken an das Massaker von Srebrenica. Bild: Lara Wilde
Anna-Lena Werner Redaktion

Kann Kunst politisches Denken verändern? Im Sinne einer Reflexion gesellschaftlicher Missstände bestimmt. Doch hat sie auch das Potenzial, selbst politisch zu werden, als Akteur quasi direkt am politischen Diskurs teilzunehmen? Und in welchem Rahmen kann und sollte Kunst überhaupt die Verantwortung für konkrete Handlungsanweisungen übernehmen, eindeutig für oder gegen etwas Partei ergreifen – also im Wortsinne „politisch“ sein?


Angesichts unserer aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und der Suche nach interdisziplinären Lösungsansätzen (mit der Kunst als möglicher weiterer Handlungsoption) sind das hoch spannende Fragen, die mindestens seit den Revolten der 1960er und 70er-Jahre diskutiert werden. Damals  trat die sogenannte „sozial engagierte“ Kunst mit dem Anspruch an, tatsächliche politische Einflussnahme auszuüben. Darunter zum Beispiel das berühmte Konzept der „sozialen Plastik“ von Joseph Beuys, wonach jeder künstlerische Akt grundsätzlich die Kraft habe, gestaltend auf die Gesellschaft einzuwirken. Oder der politische Aktivismus zahlreicher internationaler Künstlerinnen speziell aus der Performanceszene, die sich damals wie Valie Export und Carolee Schneemann für Frauenrechte, wie Tiffany Chung, The Guerrilla Art Action Group oder Martha Rosler gegen den Vietnam Krieg oder wie Agnes Denes und Haus-Rucker-Co für Klimaschutz einsetzten.


Doch bis auf wenige Ausnahmen, wie in der Arbeit des Theatermachers Christoph Schlingensief oder des Graffitikünstlers Keith Haring in den 1990ern, stand künstlerischer Aktivismus auch in der Kritik, im Fokus auf politische Einflussnahme gerade das zu ignorieren, was Kunst gegenüber anderen Handlungsfeldern auszeichne: die ästhetische Dimension.


Mit dem arabischen Frühling in Nordafrika und im Nahem Osten ab dem Jahr 2010 begann eine neue Phase des Umbruchs und wieder trat das Thema künstlerische Partizipation an gesellschaftspolitischen Diskursen auf den Plan. In fließendem Übergang entstanden meist durch Twitter organisierte künstlerische Protestformen, wie Sprechchöre, Plakatgestaltungen, (Video-Performances und Live-Streams, Flashmobs, Kochaktionen und Street Art, etwa im Rahmen der Occupy-Wallstreet-Demonstrationen 2011, der Gezi-Park-Proteste in Istanbul 2013 bis hin zu den jüngsten Revolten in Hongkong, den Fridays-for-Future- und Black-Lives-Matter-Bewegungen.

Gleichzeitig boten Kulturinstitute, wie etwa die Berliner Kunstwerke 2012 mit „Act for Art“  zur 7. Berlin Biennale, künstlerischen Protestbewegungen eine institutionelle Bühne. Auch bei der Documenta 14 mit dem Titel „Von Athen lernen“ im Jahr 2017 schienen sich unter Leitung von Adam Szymczyk die Grenzen zwischen politischem Aktivismus, postkolonialer Forschung und künstlerischer Praxis aufgelöst zu haben. Doch auch hier gab es Kritik: Die politische Positionierung, so ein häufig geäußerter Vorwurf, führe nicht zu besserer, sondern schlechterer Kunst.


Dennoch: Die Stimmen, die einen Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Kunst und Politik forderten, wurden lauter. Der Kurator und Theatermacher Florian Malzacher beschrieb einen wachsenden „Ruf nach Nützlichkeit“ und nach einer „widerständigen Kunst“, die Kunstwissenschaftlerin Jill Bennett sah die Möglichkeit von „Practical Aesthetics“, die sich nicht nur inhaltlich auf konkrete politische Ereignisse beziehen, sondern gesellschaftspolitische Entscheidungsprozesse beeinflussen oder in Eigenregie gesellschaftspolitische Veränderungen bewirken können.


Es sei nun „Schluss Mit Der Geduld“ titelt das 2019 erschienene Buch von Philipp Ruch, der 2008 das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) gründete und bis heute leitet – ein Zusammenschluss aus rund siebzig KünstlerInnen, TheatermacherInnen und Kreativen. Als „kompromisslose Demokraten“ haben sie das Ziel, aktiv „zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit“ beizutragen, wie es auf der Website des ZPS heißt. Spezialität des Kollektivs sind provokante, dennoch betont gewaltfreie Kunstaktionen gegen Faschismus und Menschenrechtsverletzungen. 2017 errichtete das ZPS eine Replik des Berliner Holocaust-Mahnmals gegenüber des Wohnhauses des ultra-rechten AfD-Politikers Björn Höcke. Doch ihre polemischen Aktionen spalten und provozieren nicht nur den Widerstand der Rechten, sondern rufen in manchen Fällen auch Irritation bei ihnen eigentlich Gleichgesinnten hervor. Ein Vorwurf: Die Instrumentalisierung von Opfern für die Zwecke medienwirksamer Performance, zuletzt geäußert im Zusammenhang mit ihrer Aktion „Sucht nach uns“, als das ZPS eine Stele mit der angeblichen Asche von Holocaust-Opfern vor dem Reichstag platzierte.


Im Gegensatz zu den Wissenschaften folgen künstlerische Praktiken und Forschungen keinem festen Regelwerk. Sie dürfen poetische, ästhetische oder fiktionale Mittel einsetzen, sind nicht an Evaluationsmechanismen gebunden, erhalten aber kleinere Budgets und erreichen ein anderes Publikum. Im Gegenzug steht es ihnen frei, mit der Wissenschaft zu kooperieren, so wie es gerade der Soziologe und Philosoph Bruno Latour für die von ihm kuratierte Ausstellung „Critical Zones“ am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe umgesetzt hat. Sowohl KünstlerInnen als auch ForscherInnen präsentieren darin ihre Vorschläge für eine neue Kartierung der Erde angesichts einer durch die Klimakrise grundlegend veränderten Geologie – von der Ausstellung als Netz aus kritischen Zonen dargestellt.


Wie effektiv künstlerische Praxis im politischen Diskurs agieren kann, zeigt sehr erfolgreich das Kollektiv Forensic Architecture (FA). Die Forschungsagentur mit Sitz am Londoner Goldsmith College hat es sich zum Ziel gesetzt, auf staatliche und gesellschaftliche Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und ökologische Zerstörung aufmerksam zu machen. Dazu wählt FA einen beeindruckend interdisziplinären Ansatz – mit ExpertInnen unter anderem aus den Feldern Kunst, Architektur, Journalismus, Recht und Softwareentwicklung. „Wir wollen eine Kultur des Lesens von Bildern schaffen – ein Verständnis für die Nachrichten, die wir über entfernte Orte erfahren – um dabei zu helfen, eine kritische Wahrnehmung für diesen Informationsfluss zu erlernen. Ausstellungsräume bieten dafür ein potentes Forum“, so Christina Varvia, stellvertretende Leiterin von Forensic Architecture.


In ihren inzwischen über 60 Untersuchungen geht die Agentur weit über eine Reflexion der Missstände hinaus. Mittels multimedialer Techniken werden visuell nachvollziehbare und fundierte Beweislagen generiert, die als digitale Plattformen, Video und oft zusätzlich installativ im Internet, in Kunstausstellungen, für die Presse, aber eben auch in Gerichtsverhandlungen und bei Strafverfahren flexibel einsetzbar sind. Dazu zählen etwa die Aufdeckung von Rechtsbrüchen der europäischen Grenzsicherung, Folterungen und Tötungen in Arbeitslagern in Kamerun und Syrien, illegale Dronenangriffe des US-Militärs im Gaza-Streifen oder in Pakistan, und – ganz aktuell – Polizeigewalt an Protestanten der Black-Lives-Matter-Bewegung. Viele Ergebnisse konnten als Beweismittel für Ermittlungsverfahren eingesetzt werden. Darunter zum Beispiel die bei der Documenta 14 ausgestellte Arbeit „77SQM_9:26MIN“, die nachwies, dass der damalige Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme – entgegen seiner eigenen Aussage – den von der NSU begangenen Mord an Halit Yozgat in dessen Internetcafé miterlebt haben musste.


All diese Beispiele zeigen: Kunst und politischer Aktivismus haben sich längst miteinander verbunden und profitieren von den verschiedenen Foren, die sie bespielen können. Künstlerische Praktiken nehmen Einfluss auf unser politisches Denken, selbst wenn sie damit nicht immer eine politische, sondern auch eine „vorpolitische“ Funktion übernehmen, wie der Philosoph Harry Lehmann es in einem 2017 in der Zeitschrift Merkur erschienen Text formuliert: Kunst, so Lehmann, artikuliere in ihren besten Werken die komplexen Bedingungen der Möglichkeit von Politik, ohne hieraus eine politische Handlungsanweisung abzuleiten. In jedem Falle hilft sie dabei, nicht mehr wegzuschauen, sondern in solidarischer Eigenverantwortung zu lernen, wie wir künftig mit den Bildern und den Missständen, die sie zeigen, umgehen wollen.

 

Anna-Lena Werner ist Kunstwissenschaftlerin, Dozentin für Kultur- und Medienmanagement an der FU Berlin und Gründerin des Online-Kunstmagazins artfridge.de.

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