Neu sehen lernen

Ist das steigende Interesse für nicht- westliche Kunst wirklich so weltoffen und inkludierend, wie es scheint? Oder bleibt es in Wahrheit einem alten Denkmuster verhaftet: der Unterscheidung zwischen „vertraut“ und „fremd“?
Lynette Yiadom-Boakye, A Passion Like No Other 2012, © Courtesy of Lynette Yiadom-Boakye
Ann Mbuti Redaktion

Würden Sie sich als rassistisch bezeichnen? Vermutlich nicht. Das würden wohl die wenigsten und dennoch ist Rassismus in der Gesellschaft unbestreitbar verbreitet, wie die letzten Monate eindrücklich gezeigt haben. Meist sind es unterschwellige Vorurteile, die diskriminieren, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Dass Rassismus nur absichtsvoll geschehen kann, in Form mutwilliger Ausgrenzung aufgrund biologischer Merkmale, ist ein weit verbreiteter Irrtum.


Das ist auch der Grund, warum es nicht ausreicht, nichts zu tun, um nicht rassistisch zu sein. „Wer nichts tut, macht mit“, lautete in den 1990er-Jahren eine Kampagne für mehr Zivilcourage. Dasselbe gilt auch für Rassismus. Wer sich nicht aktiv gegen das Fortbestehen von ausgrenzenden Machtstrukturen stellt, die geschichtlich bedingt mit den Attributen „weiß, männlich und heterosexuell“ verbunden sind, sorgt in seiner Passivität dafür, dass diese weiterhin bestehen bleiben.


Auch die Kunstwelt – vermeintlich offener und freier im Denken als andere Teile der Gesellschaft – ist davon nicht ausgenommen. Immerhin rumort es in den Museen und Sammlungen bereits seit Jahren. Selbstkritisch reflektiert man, dass beachtenswerte Kunst zu lange der Konsens weißer Experten war, die über die Werke weißer Künstler redeten, die von weißen Kritikern für ein weißes Publikum eingeordnet und in Museen und White Cubes gezeigt wurde. Der Kunstmarkt bestand entsprechend aus Galerien, die größtenteils Positionen aus diesem weißen Pool herausfischten, und Menschen mit entsprechender Kaufkraft – wiederum primär Weiße oder zumindest WestlerInnen –, die ökonomisch zementierten, was sowieso schon vorherrschte: White Supremacy in der Kunst.


Also hinterfragte man Provenienzen, machte auf die fehlenden nicht-männlichen Positionen im Kanon aufmerksam, forderte Quoten in Ausstellungen und Institutionen. Diversität, Vielfalt und nicht-westliche Perspektiven hielten Einzug. Man gab unterrepräsentierten Gruppen – Frauen, People of Color, Schwarzen, nicht-westlichen Positionen – eine Stimme und damit die Möglichkeit, den öffentlichen Diskurs um das, was wir als gut, wahr und schön empfinden, mitzugestalten.


Doch all die Offenheit und Beteiligung geht nur bis zu einem gewissen Punkt. Die Einführung von Quoten und stolze Zurschaustellung von internationalen Besetzungen in Image-Broschüren sind eine Sache. Eine völlig andere ist die Frage, was sich an bestehenden Besitzverhältnissen und Machtstrukturen tatsächlich ändert. Denn die Privilegien von „weiß, männlich und heterosexuell“ bauten sich über die letzten Jahrhunderte auf Kosten all jener Gruppen auf, die nicht dazu gehörten. Die Prosperität der heutigen westlichen Welt basiert auf der systematischen Ausnutzung von Menschen in anderen Teilen der Erde.


So reicht es auch nicht aus, KünstlerInnen „nur“ eine Stimme zu verleihen. Schon allein die Geste zeugt von einer Machtposition, aus der heraus entschieden wird, wer gehört werden soll und wer nicht. Überhaupt hat die Geste des Stimme verleihens einen gönnerischen Beigeschmack. Es mangelt keineswegs an einer Stimmvielfalt in anderen Teilen der Welt, die westliche Kunstlandschaft hat nur über Jahrhunderte nicht hingehört. Und wenn doch, dann schlimmstenfalls mit der Intention, sie als primitiv und folkloristisch herabzusetzen oder zumindest exotisch, fremd und andersartig abzugrenzen.


Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Art, wie wir nicht-westliche Bildinhalte, Themen oder Körper wahrnehmen. Die vehementen Forderungen nach Repräsentation und Sichtbarkeit, die eben jene anderen Gruppen aktuell verlangen, versuchen dem entgegenzuwirken. Dagegen haben sich heute im globalen Kunstdiskurs zeitgenössische Positionen nicht-westlicher KünstlerInnen längst etabliert. In der figurativen Malerei bringen gefeierte Akteurinnen der letzten Jahre wie Njideka Akunyili Crosby vermehrt schwarze Figuren auf die Leinwand. Die aus Nigeria stammende, in den USA lebende Künstlerin befasst sich in ihren collagenartigen Arbeiten explizit mit der Diaspora-Erfahrung in den Vereinigten Staaten. Oder die gefeierte britische Malerin Lynette Yiadom-Boakye, die aufgrund ihrer ghanaischen Wurzeln 2019 im Pavillon des Landes an der Biennale von Venedig ausgestellt hat. Ihre immer schwarze Figuren sind imaginiert, Erzeugnisse einer fiktionalen Erzählung und als solche einer herkunftsspezifischen Deutung enthoben. Doch gerade mit der Universalität, die Yiadom-Boakye für schwarze Figuren in ihren Bildern etablieren will, werfen diese Fragen der Repräsentation und Identität auf.


Der Erfolg der beiden großartigen Künstlerinnen ist ein gutes Zeichen. Dennoch muss man sich fragen: Ist das Label „nicht-westliche Kunst“ allein dadurch gerechtfertigt, dass Akunyili Crosby aus einem nicht-westlichen Land stammt? Und warum wird ausgerechnet ihr Werk so gefeiert, das sich mit einer vermeintlich nicht-westlichen Perspektive auf eben diese westliche Welt auseinandersetzt? Warum kontextualisiert die Kunstwelt den frischen Wind, den Yiadom-Boakyes Bilder erzeugen, als „ghanaisch-britisch“?


Beim genaueren Hinsehen entpuppt sich die Abgrenzung von westlicher Kunst und ihrem Gegenteil als die Reproduktion des alten Musters von „vertraut und fremd“, von „wir und die Anderen“: Wir haben unsere Sicht auf die Dinge, auf Kunst und auf Kultur, die Anderen haben eine andere. Würden Sie das als rassistisch bezeichnen? Vermutlich nicht. Aber diese Form von Othering ist die Grundlage für ein Denken, das Gräben und Mauern zwischen Menschen zieht.


In einer globalisierten Welt und einem international funktionierenden Kunstfeld macht die Dichotomie von „westlich“ und „nicht-westlich“ keinen Sinn mehr. Statt unsere vom westlichen Diskurs geprägten starren Kategorisierungen aufrecht zu erhalten, sollten wir viel eher an unseren Sehgewohnheiten arbeiten. Jenseits der Zuschreibung von „westlich“ und „nicht-westlich“ gibt es eine Kunstwelt zu entdecken, die eine Quelle von Kreativität und neuen Impulsen sein kann. Nicht einfach das Andere, Nicht-Westliche wartet dort, sondern eine Vielfalt an unbekannten Positionen und KünstlerInnen in ihrem eigenen jeweiligen Kontext. ■

 

Ann Mbuti ist freie Kulturpublizistin. Sie schreibt unter anderem für das Monopol Magazin, SPEX und Contemporary And.

 

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