Mit einjähriger Verspätung eröffnete im April die Biennale in Venedig. Hätte es einen goldenen Löwen für die längste Warteschlange gegeben, wäre der Griechische Pavillon unter dem Motto Oedipus in Search of Colonus der heißeste Anwärter gewesen. Knapp zwei Stunden dauerte es, um ins Innere zu gelangen, wo Besuchende das neu inszenierte Drama um Sophokles’ Oedipus erwartete. Loukia Alavanou verwandelte den mythologischen Stoff in einen 15-minütigen VR-Film – ein fully immersive Oedipus experience sozusagen.
Trotz Einsatz der laienschauspielenden Roma-Community, die unter ärmlichen Bedingungen in den Barackensiedlungen rund um Athen lebt, wirkte der filmische Ausflug jedoch alles andere als zeitgemäß. Alavanou setzt die Schicksale der griechischen Roma, denen die Staatbürgerschaft verwehrt wird und die deswegen nomadisch leben, mit dem ruhelosen Umherziehen des Oedipus gleich. Doch sind die Herausforderungen eines modernen Staatswesens und die Willkür der Zugehörigkeit zu ihm überhaupt mit einer Erzählung aus der Antike darstellbar?
Die meisten Narrationen sind eng mit den Strukturen und Normen der Gesellschaft verbunden, in der sie entstehen – und haben wiederum die Möglichkeit, formend auf sie rückzuwirken. Geschichten entstammen der kollektiven Wahrnehmung und vermitteln grundlegende Motive und Werte, die individuell und für eine Kultur identitätsstiftend wirken. Als Sophokles seine Version der Oedipus-Erzählung niederschrieb, kursierte sie schon lange in der griechischen Gesellschaft und verhandelte die Unausweichlichkeit des Schicksals. Bei der Frage, wie sich eine Gesellschaft organisieren soll, bieten Fiktionen den Freiraum, modellartig darüber nachzudenken. Statt also die griechische Antike heranzuziehen, um das Zeitgeschehen zu reflektieren, wie es sich der griechische Pavillon zum Ziel gesetzt hat: Warum fangen wir nicht an, die Geschichten unseres aktuellen Zeitgeschehens zu reflektieren? Läge darin nicht ein vielversprechenderer Weg zu Fiktionen, die uns neue Gesellschaftsentwürfe aufzeigen?
Imaginierte Epoche
Nun, da die Welt, wie wir sie kannten, langsam endet, begleitet uns die Frage, wie ihre Alternativen aussehen könnten, durch den Dauerausnahmezustand. Die Kunst- und Kulturwelt befasst sich intensiv mit diesen Themen. Bereits vor den ersten Lockdowns tauchten Autorinnen wie Donna Haraway oder Octavia Butler vermehrt in Ausstellungskontexten auf. Sie befassen sich nicht mit dem Ende einer Spezies, Gesellschaft oder Ideologie, sondern mit dem immerwährenden Fortbestand der Evolution. Der Fokus liegt auf dem Leben statt der Katastrophe und eine Apokalypse wird dadurch schlicht zur Etappe. Das stellt ganz selbstverständlich die Frage nach dem Danach.
Dieser Ansatz hat etwas Verführerisches, besonders jetzt. Die Naturwissenschaftshistorikerin Haraway denkt anhand der imaginierten Epoche des Chthuluzäns, das nach unserem Anthropozän angesiedelt ist, über das Leben auf der Erde unter drastisch anderen Umständen nach. Menschen werden mit dem genetischen Material von anderen Lebewesen gekreuzt, um eine neue Art der Koexistenz zu schaffen und das Aussterben der Arten zu verhindern. Man beginnt darüber nachzudenken, wie sich eine Gemeinschaft, die more-than-human ist und den Menschen aus dem Zentrum des Weltgeschehens herausdenkt, wohl verhält.
Wenn man allerdings die aktuellen Stoffe im Mainstream anschaut, zeichnen die sich vor allem durch fehlende Flexibilität aus. Viele der Geschichten in Film und Fernsehen, die die Unterhaltungsindustrie des 20. Jahrhunderts geprägt haben – allen voran Superhelden und Superheldinnen wie Superman, Batman oder Wonder Woman –, sind an die Archetypen der bekannten Mythologien angelehnt. Die aktuellen Diskussionen zu Diversität, Multiperspektivität und Inklusion zeichnen hingegen ein anderes Bild. Unsere Lebensrealitäten sind chaotischer, komplexer und unsere Zukunft ist hoffentlich dezentralisierter als die Geschichten von singulär Auserwählten, die die Welt retten. Wären wir also mit einer neuen Mythologie, die sich den Herausforderungen unserer Zeit annimmt, nicht viel besser beraten?
2015 sorgten die Selbstporträts der US-amerikanischen Künstlerin, Autorin und DJ Juliana Huxtable bei der New Museum Triennale für Aufsehen. Sie stellt sich darin als eine Mischung aus Mensch und Tier dar, eine animorphe Prinzessin, die sumerische Mythologie mit einer Black Ästhetik zusammenbringt und so ein ikonisches Fabelwesen entwirft, das sich bereits jetzt – very instagramable – ins visuelle Gedächtnis eingeschrieben hat. Die transsexuelle Künstlerin erforscht mit ihren Arbeiten die Schnittmengen von Race, Geschlecht, Queerness und Identität. Statt bestehende soziale Normen lediglich zu kritisieren, bringt sie alternative, hoffnungsvollere Entwürfe in die Welt. Ihre Porträts zeigen ein Wesen, das Welten entspringt, die es noch zu entdecken gilt. Es ist nicht-menschlich, verführerisch und nicht kategorisierbar und birgt großes Potenzial für neue, wirklich zeitgenössische Archetypen.
Digitales Pantheon
Wenn wir weiter daran glauben, dass in den Geschichten, die wir einander erzählen, tiefere Wahrheiten verhandelt werden, eröffnet der Umbruchmoment, in dem wir uns befinden, ganz neue Horizonte. Im Digitalen, in der globalen Vernetzung und der Allgegenwärtigkeit von Information finden sich zahlreiche Mysterien, von denen ausgehend sich eine ganz neue Art der Sinnstiftung entfalten lässt. Statt Lethe, die den Verstorbenen beim Eintritt in das Totenreich den Trank des Vergessens reicht – warum nicht eine Göttin, die uns den Sinn des Ghostings näherbringt? Statt der Irrfahrt des Odysseus – warum nicht Geschichten aus dem Irrgarten der ausweglosen Algorithmen und Content-Bubbles? Anstelle der Strafe des Sysiphos, der für alle Zeit einen Felsen einen steilen Hang hochhievt und ewig kurz vor dem Gipfel scheitert – warum kein Mythos des verlorenen Back-up-Versuchs? Was für eine Sagenwelt brauchen künstliche Intelligenzen und was für Sinnfragen beschäftigen sie? Ist ein Kosmos denkbar, der nicht von Uranos und Gaia abstammt, sondern ein immenser Informationsspeicher von all dem ist, was war, ist und jemals sein wird – eine Cosmic Database, wie bei der französischen Künstlerin Tabita Rezaire? Zu was für Träumen und Mythen regt er wohl an?
Vielleicht schafft ein digitales Pantheon, das Platz bietet für lauter wundersame Avatare, den Raum für eine neue Mythologie, die ein anderes Imaginieren von Zukünften und Wahrheiten möglich macht. Damit wäre es wirklich relevant für unsere Zeit.
Ann Mbuti
ist freie Kulturpublizistin. Sie schreibt über zeitgenössische Kunst und (Pop-)Kulturen mit einem Fokus auf deren Potenzial für gesellschaftlichen Wandel. Im Oktober erscheint ihr Buch „Black Artists Now!“ im C.H. Beck Verlag.