»Man darf Hoffnung haben«

Der Mangel an Arbeitskräften nimmt bedrohliche Ausmaße an. Welche Maßnahmen sind geeignet gegenzusteuern? Ein Interview mit Dr. Stefan Hardege, Referatsleiter Fachkräftesicherung, Arbeitsmarkt, Zuwanderung bei der DIHK.

Illustration: Julia Körtge
Illustration: Julia Körtge
Mirko Heinemann Redaktion

Laut aktueller DIHK-Studie fürchten 85 Prozent der Unternehmen in Deutschland negative Auswirkungen durch den Fachkräftemangel. Welche Auswirkungen sind das konkret?

Am häufigsten genannt wurde die Mehrbelastung der Belegschaft. Dinge müssen kurzfristig erledigt werden, und sie werden von den vorhandenen Mitarbeitenden erledigt. Je höher die Belastungen sind und je länger sie anhalten, desto weniger attraktiv kann das Unternehmen für Bewerberinnen und Bewerber werden. Ebenso kann die Personalbindung der Beschäftigten darunter leiden. Dazu kommen steigende Arbeitskosten. Auch auf die Innovations- und Investitionstätigkeit wirkt sich der Fachkräftemangel negativ aus. Gerade in der Industrie schildern viele Unternehmen, dass auch deshalb weniger investiert wird, was sich wiederum auf andere Branchen niederschlägt.
 

Wie wirkt sich der Mangel auf den Mittelstand aus, das viel beschworene Rückgrat der deutschen Wirtschaft?

Seit etlichen Jahren wird der Fachkräftemangel im Mittelstand als Risiko für die geschäftliche Entwicklung betrachtet. Für die derzeitige Stagnation ist der Fachkräftemangel sicher nur einer von mehreren Faktoren, die die wirtschaftliche Entwicklung hemmen. Als gewichtiger werden aktuell die hohen Energiekosten bezeichnet, dazu kommen beispielsweise eine schleppende Weltkonjunktur und wirtschaftspolitische Unsicherheiten. Der Fachkräftemangel kann mittel- bis langfristig die Wirtschaftsentwicklung hemmen. Und nicht nur diese, sondern auch Projekte wie die Energiewende sind in Gefahr. Es fehlen dann nicht nur die Ingenieure, die sie planen, sondern auch das Personal, das Windräder aufstellt oder Lkw-Fahrer, die sie an die Standorte bringen.
 

Welche Qualifikationen fehlen denn in besonderem Maß?

Insbesondere fehlen Menschen mit dualer Berufsausbildung. Früher haben wir vom Ingenieurmangel gesprochen. Akademiker fehlen zwar nach wie vor. Aber jetzt ist zu beobachten, dass die Engpässe die Breite der Berufsausbildungen erfasst haben, nicht zuletzt, weil viele Babyboomer, die jetzt in Rente gehen, genau diese Ausbildungen haben und künftig weniger Personen in den Arbeitsmarkt nachkommen, die sie ersetzen können.

 

Wie ließe sich Abhilfe schaffen?

Wir müssen die duale Berufsausbildung stärken und Jugendlichen deren Vorteile erklären. In allen Schulformen, das heißt auch in den Gymnasien, sollten wir im Rahmen der Berufsorientierung die Chancen aufzeigen, die es in diesen Berufen gibt. Zur Attraktivität einer Ausbildung gehört auch, dass wir die Berufsschulen zukunftsfähig ausstatten, etwa mit modernster IT, sodass die Absolventinnen und Absolventen auch dahingehend gut ausgebildet sind. Dazu kommt das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Zwar arbeiten in Deutschland bereits vielfach beide Elternteile, aber vor allem sehr viele Frauen nur in kürzerer Teilzeit. Das hat auch mit den teilweise schlecht ausgebauten Betreuungsstrukturen für Kinder zu tun. In manchen Regionen ist es so, dass die Einrichtung am Mittag geschlossen wird und die Kinder dann abgeholt werden müssen. Das hat oftmals strukturelle Gründe, aber es fehlen auch in der Betreuung Arbeitskräfte.
 

Mehr Arbeit in Vollzeit – würde dies den Fachkräftemangel beheben?

Es wäre zumindest ein richtiger Schritt. Wenn beispielsweise alle teilzeitbeschäftigten Frauen durchschnittlich zwei Stunden pro Woche mehr arbeiten würden, entspräche das rechnerisch rund 500.000 zusätzlichen Arbeitskräften. Durch Rationalisierung, Digitalisierung sowie den Einsatz künstlicher Intelligenz ließen sich vielfach zusätzliche Effizienzpotenziale heben. Die gleiche Arbeit ließe sich also mit weniger Menschen erledigen. Dennoch reicht das nicht aus. Mittlerweile ist es so, dass oft auch gering qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Rund ein Drittel der Unternehmen mit Stellenbesetzungsproblemen hat Schwierigkeiten, Arbeitskräfte ohne Berufsausbildung zu finden – etwa im Service, bei Reinigungsdiensten oder in der Sicherheitswirtschaft.

 

Welche weiteren Register müssten gezogen werden?

Qualifizierte Zuwanderung muss eine Säule in der Strategie zur Gewinnung von Fachkräften sein. Trotz der schlechten Wirtschaftslage haben wir noch Beschäftigungsaufbau. Dieser wurde zuletzt in großem Maße durch ausländische Beschäftigte getragen. Ein nennenswerter Anteil geht dabei auf die so genannte Westbalkanregelung zurück, nach der für Staatsangehörige der sechs Westbalkanstaaten ein privilegierter Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt besteht. Wer ein verbindliches Arbeitsplatzangebot eines Arbeitgebers in Deutschland und ein Visum hat, kann die Stelle antreten.


Welche Auswirkungen wird das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Bundesregierung haben?

Das Gesetz enthält eine Reihe guter Regelungen. So können etwa Personen mit Berufserfahrung und ausländischem Berufsabschluss leichter einreisen. Allerdings müssen sie dafür ein hiesiges Bruttogehalt von rund 40.000 Euro haben, was manche Branchen vor Herausforderungen stellt. Und wenn die bürokratischen Prozesse insgesamt nicht beschleunigt werden, nützt auch das beste Gesetz nichts. Schauen Sie nur, wie lange es vielfach dauert, bis man einen Termin in der deutschen Botschaft bekommt. Wie lange die Ausstellung eines Visums dauert. Wie lange, bis die Ausländerbehörden eine Aufenthaltserlaubnis erteilt haben. Das sind oft viele Monate. Aber es wird bereits an der Digitalisierung dieser Prozesse gearbeitet und man darf Hoffnung haben, dass es künftig schneller funktioniert.

 

Fehlt wohl nur noch die entsprechende Willkommenskultur. Und da sieht es wohl derzeit eher nicht so gut aus, wie die Erfolge von rechtspopulistischen Parteien zeigen.

Eine Volkswirtschaft, die auf Außenhandel und auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen ist, braucht Weltoffenheit und Toleranz. Aber eben auch ganz alltägliche Dinge, wie beispielsweise Wohnraum. Für die Unternehmen, die ausländische Fachkräfte anwerben wollen, stellt sich, je nach Region, die Frage: Wo bringen wir sie unter? Was zeigt: Die Herausforderungen beim Fachkräftemangel sind komplex. Sie sind nicht mit einigen wenigen Maßnahmen in den Griff zu bekommen.

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