Und falls ja, von welchen Kompetenzen sprechen wir eigentlich? Ein Interview mit Professor Ulrich Weinberg, Leiter der School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam.
Wenn junge Studierende bei Ulrich Weinberg am renommierten Hasso-Plattner-Institut ihre Ausbildung beginnen, denken sie in der Regel, sie seien bestens vernetzt. Das mag für den virtuosen Umgang mit technischen Geräten gelten, in den Köpfen dominiert oftmals noch ein Denkmodus, der eher auf Vereinzelung als auf Teamarbeit optimiert ist. Die Design-Thinking-Methode, die Weinberg mit einem Team von 40 Professoren und Assistenten am HPI lehrt, versucht dies zu ändern.
Herr Weinberg, wie wird sich Arbeit im Zuge des digitalen Wandels verändern?
Wir sollten uns darauf einstellen, dass alle Gewerke, die sich mit Zahlen und Buchstaben beschäftigen, nach und nach durch digitale Technologien ersetzt werden. Das heißt, wir müssen neue Dinge lernen, uns auf neue Abläufe einstellen.
Meinen Sie damit die Kompetenz im Umgang mit Technologie?
Ja, wobei wir uns sehr bewusst darüber werden müssen, auf was es bei dieser Kompetenz im Kern ankommt. Wir dürfen nicht nur von der technischen Seite her denken. Dann neigen wir dazu, zu übersehen, dass es bei der Einführung von digitalen Technologien lange Zeit lediglich darum ging, analoge Arbeitsprozesse zu digitalisieren. Dadurch wurden vielleicht die Prozesse selbst beschleunigt. Wesentlich aber ist etwas anderes: Der Wandel von einer trennenden, kategorisierenden Denkweise zu einer digitalen Vernetzungsqualität.
Haben Sie ein konkretes Beispiel für uns?
Nehmen Sie den Bereich Big Data. Es ist mittlerweile möglich, die kompletten Unternehmensdaten eines Großkonzerns in den Hauptspeicher eines Computers zu laden und darauf in Echtzeit zuzugreifen. Technologisch sind dadurch Abfrageprozesse in Sekundenbruchteilen möglich. Und dementsprechend könnten wir auch unsere Entscheidungsprozesse darauf einstellen.
Sie sagen „könnten“.
Ja, weil wir eben im Augenblick oft noch gar nicht so weit sind. Wir haben uns immer noch nicht ganz von unserem alten, für die analoge Zeit optimierten Denkmuster gelöst. Was wir aber durch die Möglichkeiten der neuen Technologie beobachten, ist eine fundamentale Veränderung, wie wir mit Informationen umgehen. Und das ist die Verknüpfung in Echtzeit. Doch das ist eben eine relativ neue Erkenntnis, die wir in vielen Bereichen noch nicht berücksichtigen. Ein schönes Beispiel für nicht-vernetztes Denken ist die Bahnstrecke Hamburg-Berlin.
Das müssen Sie erklären.
Wir haben es hier mit zwei für sich sehr gut entwickelten vernetzten Systemen zu tun, das Schienen- und das Mobilfunknetz. Nur leider sind die beiden für die Strecke Hamburg-Berlin nur sehr mangelhaft miteinander vernetzt. Sie haben, wenn Sie unterwegs arbeiten wollen, ständig mit Funklöchern zu kämpfen. Das ist für mich ein Effekt des alten, auf Einzelperformances bedachten Denkmodus. Wie überholt dieser ist, sehen Sie zum Beispiel auch an der Nutzung von Smartphone-Apps. Noch vor wenigen Jahren hatten wir es mit Geräten zu tun, auf denen Anwendungen relativ getrennt voneinander funktionierten. Inzwischen ist ein Hauptkriterium für die Qualität von Apps ihre Vernetzungsoption mit anderen Anwendungen.
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Was bedeutet all dies nun konkret für unsere Arbeitswelt?
Es bedeutet, dass wir die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, fundamental neu denken müssen. Bislang waren unser Bildungssystem und unsere Berufswelt geprägt von der Vorstellung, dass wir die besten Ergebnisse erzielen, wenn jeder als Einzelner gegen den anderen arbeitet. Belohnt wurde immer die individuelle Performance. Ich bezeichne dieses Kompetenzmuster als IQ, im Gegensatz zu WeQ, das sich an den „Wir-Qualitäten“ orientiert, wie sie zum Beispiel in der Teamarbeit entstehen. Wir lernen in der Schule bis heute in erster Linie, dass wir besser sein müssen als unsere Klassenkameraden. Wir lernen nicht, dass wir Kollaborationskompetenz entwickeln müssen. Aber genau darauf kommt es zukünftig an.
Wie lernt man diese Kompetenz?
Wir beschäftigen uns am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam seit inzwischen zehn Jahren genau mit dieser Frage. Sie ist der Kern unserer School of Design Thinking, einem Ausbildungskonzept, das es Studierenden aller Disziplinen und Führungskräften ermöglichen soll, Teamarbeit auf einem völlig neuen Level zu erlernen. Zunächst ist es entscheidend, komplett auf klassische Einzelbewertungen zu verzichten. In den ersten Wochen arbeiten unsere Studierenden verschiedene Aufgaben in Teams ab und merken erst nach einer Weile, dass wir nicht auf die Einzel-Performance achten und auch die Teams nicht benoten. Sobald sie das registrieren, passiert etwas fast Magisches: Man spürt, wie sich eine unglaubliche kreative Energie freisetzt. Die Studierenden trauen sich mehr, sind experimentierfreudiger und haben viel mehr Spaß bei der Arbeit. Es entsteht die intrinsische Motivation, gute Qualität abzuliefern.
Sie haben den entscheidenden Begriff schon genannt: Design Thinking. Können Sie die Methodik noch etwas genauer erklären, die hinter diesem Konzept steht?
Entwickelt wurde das Design Thinking Konzept, wie es heute gelehrt wird, an der Universität Stanford. Die Idee war, den Arbeitsprozess von Designern für jegliche Form von Teamarbeit zu nutzen. Dabei hat man sechs Arbeitsschritte identifiziert: Verstehen, Beobachten, Definieren, Ideen finden, Prototypen bauen und Testen. Der Kernmechanismus dabei ist das, was wir „Schleifen drehen“ nennen. Die sechs Einzelschritte werden mehrmals komplett durchlaufen. In jeder neuen Schleife werden neues Wissen, neue Technologien, neue Verfahrensweisen integriert.
Was lässt sich konkret über die Zusammensetzung der Teams sagen?
Sie sollten so interdisziplinär wie möglich sein und aus nicht mehr als fünf bis sechs Mitgliedern bestehen. Entscheidend ist es, Vertretern unterschiedlicher Fachrichtungen die Gelegenheit zu einem kreativen Austausch zu geben. So vermeidet man klassisches Silo-Denken.
Wie haben Sie Design Thinking am HPI umgesetzt?
Zunächst mussten wir überhaupt die Räume dafür schaffen, und zwar im wörtlichen Sinn. Als wir vor zehn Jahren begannen, gab es überhaupt keine Möbel, die unseren Ansprüchen genügt hätten, mit kleinen Teams von fünf oder sechs Leuten im Stehen und mobil im Raum arbeiten zu können. Also mussten wir sie selbst bauen. Mittlerweile stehen diese in über 150 Einrichtungen in ganz Deutschland. Und dann haben wir von Anfang an den Kontakt zu Unternehmen und Institutionen gesucht, um gewissermaßen die Leistungsfähigkeit des Konzeptes auf die Probe zu stellen.
Sie bekommen also externe Anfragen?
Ganz genau. Es gibt die Arztpraxis, die zu uns kommt und fragt, wie wir den Warteprozess für ihre Patienten verbessern können. Oder die Verbraucherzentrale, die nach Möglichkeiten sucht, Fake-Produkte in Online-Portalen zu identifizieren. Oder ein Automobilzulieferer, der nach Ideen für Innenräume selbstfahrender Autos forscht. Diese enge Zusammenarbeit hat übrigens auch dazu geführt, dass wir von Anfang an nicht nur Studenten, sondern im Rahmen spezieller Ausbildungsmodule auch sehr viele Führungskräfte in Design Thinking ausgebildet haben.
Heißt das, der Kulturwandel von alten zu neuen Denkmustern ist auf einem guten Weg?
Natürlich haben wir nach wie vor das Problem, dass einige von unseren Studenten sich nach der Ausbildung in Unternehmen wiederfinden, die noch nach klar voneinander abgegrenzten Fachbereichen funktionieren. Ich bezeichne das als Brockhaus-Struktur. In so einem System wird das vernetzte Arbeiten immer noch eher behindert als gefördert. Gleichzeitig sind diese Unternehmen ja selbst von der Digitalisierung betroffen und suchen händeringend nach Lösungen. Das führt dann oftmals zum Aufbau von Experimentierräumen, aber nicht innerhalb, sondern außerhalb des Unternehmens: Eine Gruppe von Nerds nistet sich in einem Coworking-Space ein und entwickelt disruptive Geschäftsmodelle, auf die man dann reagiert. Mit einem eigentlich nötigen Kulturwandel hat das aber noch nicht viel zu tun.
Gibt es nicht auch positive Beispiele?
Doch, die gibt es. Etwa Bosch, eines der wenigen großen Unternehmen, das meiner Meinung nach wirklich begriffen hat, dass Digitalisierung im Kern etwas mit Kulturwandel zu tun hat. Tatsächlich setzt Bosch sehr stark auf Design Thinking. Und zwar nicht nur im Rahmen einer Methodik, die man einmal zaghaft ausprobiert, wie man das bei vielen Unternehmen beobachten kann. Sondern hier geht es wirklich darum, Arbeitsplätze, Strukturen, Belohnungsmodelle neu zu denke
Inwiefern?
Es gibt 17 große Geschäftsbereiche bei Bosch, jeder mit einer eigenen, hochkarätig besetzten Forschungsabteilung. Dort arbeiten Experten, die sich aber oftmals gar nicht kennen und auch in verschiedenen Städten tätig sind. Offenbar ist der Konzernleitung bewusst geworden, dass sich in Zukunft ein Großteil der innovativen Kraft des Unternehmens in der Vernetzung dieser einzelnen Bereiche abspielen wird. Die Zukunft ist die Verknüpfung von Fachexpertise, die bislang unverknüpft war. Da liegen neue Produktideen, neue Serviceideen, neue Geschäftsfelder. Also hat man am Standort Renningen ein neues Gebäude geschaffen, in dem sich Experten über die Fachgrenzen hinweg zu Workshops verabreden können.
Wie steht es um die Idee eines „bewertungsfreien“ Arbeitens?
Auch da hat sich die Konzernspitze zu einem radikalen Schritt entschlossen. Seit Januar 2016 gibt es bei Bosch keine Einzelbonuszahlungen mehr. Maßgeblich für Bonuszahlungen sind nur noch teambezogene Leistungen und die Gesamtperformance des Unternehmens. Für mich ist das der entscheidende Schritt in die richtige Richtung: Wer auf Einzelincentives verzichtet, fördert genau jene Form des Zusammenarbeitens, die wir brauchen, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern: kleine, crossfunktionale Teams, die sich in einer neuen Arbeitsumgebung treffen, die von ihnen selber gestaltet wurde.