Mehr Leben

Nie war der Wunsch nach einer 4-Tage-Woche größer als heute. Und noch nie wurde er offener ausgesprochen.

Illustration: Marina Labella
Illustration: Marina Labella
Petra Lahnstein Redaktion

Einer aktuellen Befragung zufolge wünschen sich mehr als 80 Prozent aller Deutschen eine 4-Tage-Woche, bestenfalls bei gleichbleibendem Gehalt und geringerer Arbeitszeit. Doch wie so oft klaffen Wunsch und Realität weit auseinander: Aktuell kommen gerade einmal 2 Prozent aller Deutschen Arbeitnehmer in den Genuss einer solchen. Befürworter wie Arbeitnehmerverbände versprechen, dass die 4-Tage-Woche eine Win-win-Situation für alle sein wird: Weniger Stress für die Belegschaft und geringere Krankenstände im Unternehmen bei gleichbleibender oder gar steigender Produktivität. Gegner und viele Unternehmer hingegen sind skeptisch und halten den Zeitpunkt angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels für den falschen. 

Dass Stress krank macht, ist längst wissenschaftlich erwiesen. Die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme ist in den vergangenen 20 Jahren um mehr als 30 Prozent gestiegen. Und so ist es kein Wunder, dass Angestellte und Selbstständige nach Wegen aus der Stressfalle, dem „Hamsterrad“ und einer zu hohen Arbeitsbelastung suchen. Wer zu sehr belastet ist, braucht Entlastung – das ist auch im Bewusstsein vieler Unternehmen angekommen. Und so bieten insbesondere Großkonzerne die gesamte Palette von Teilzeitarbeit, Jobsharing, Gleitzeit, flexiblen Arbeitszeitkonten und Sabbaticals an. Gleichzeitig wäre so mancher Mitarbeiter im Mittelstand schon froh, wenn er einmal in der Woche ohne schriftliche Genehmigung von zu Hause aus arbeiten dürfte. Oder sich keine blöden Sprüche vom Chef anhören müsste, sobald er um 15:30 Uhr das Büro verlässt, um die Kinder aus der Kita abzuholen. 

Negativbeispiele gibt es genug, etwa in der Pflege, wo die harte Realität des Fachkräftemangels nicht nur zu einer Patientenversorgung im Minutentakt führt, sondern auch zu einer zunehmenden Erschöpfung der Beschäftigten. Vielen Pflegerinnen und Pflegern käme nicht einmal in den Sinn, nach einer 4-Tage-Woche zu rufen, statt sich schlicht für bessere, menschlichere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Dafür, einmal nicht nach der Arbeit so müde und erschöpft zu sein, dass man ohne Freunde zu treffen, ohne Zeit für Hobby oder Sport, ohne Zeit in der Natur, ohne Zeit für Kreativität und Selbstverwirklichung auf dem Sofa regelrecht zusammensackt. Dafür, Leben und Arbeiten wieder in eine bessere Balance bringen zu können. 


Work-Life-Balance: ein überholter Begriff?
 

„Gleich viel Zeit für Arbeit und Freizeit“, „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, „berufliche Anforderungen und Privatleben in einem harmonischen Verhältnis“. Kaum ein Begriff ist so vieldeutig, vielleicht sogar unpräzise wie der der Work-Life-Balance. Manch einer mag sogar behaupten, er sei längst überholt: Nicht nur, weil Arbeit ein Teil des Lebens ist und sich „Arbeit“ und „Leben“ streng genommen nicht als Gegensatzpaar definieren lassen. Sondern auch, weil die Vermischung von Arbeit und Privatleben in vielen Berufen längst Realität ist. 

Spätestens seit Corona wird der Küchentisch immer öfter zum Schreibtisch und im privaten Garten werden wie selbstverständlich geschäftliche E-Mails beantwortet. Viele (Büro-)Angestellte sind auch nach Feierabend erreichbar und beantworten ihre E-Mails gar am Wochenende oder während des Urlaubs. Gleichzeitig nutzen viele Beschäftigte ihre Arbeitstage im Homeoffice, um zwischendurch private Dinge zu erledigen – etwa den Geschirrspüler einzuräumen, die Wäsche aufzuhängen, mit dem Hund spazieren zu gehen oder einenTermin beim Physiotherapeuten wahrzunehmen. 
Work-Life-Blending oder Work-Life-Integration wird diese Entwicklung genannt, und so wertvoll und beliebt sie ist – die Verschmelzung von Berufs- und Privatleben kann zu Überforderung führen. Zum Beispiel, wenn Überstunden zur Normalität werden, weil sie im Homeoffice nicht als solche wahrgenommen werden, oder wenn im Privatleben ständig nebenbei gearbeitet wird.
 

Wertschätzende Unternehmenskultur
 

Eine gute Work-Life-Balance setzt also immer auch Verantwortung voraus. Wer sich selbst ausbeutet, wer nicht auf die Signale seines Körpers hört, wer sich ständig mit Menschen und Situationen umgibt, die ihm Energie rauben, wer nur noch Dienst nach Vorschrift macht, wird sich auch in einer 4-Tage-Woche nicht stressfreier fühlen. Und auch Arbeitgeber, die auf eine 4-Tage-Woche umstellen, tragen nur bedingt zur Entlastung bei. Fragt man Beschäftigte nach den Gründen für die zunehmende Unzufriedenheit im Arbeitsleben, so werden neben einer zu hohen Arbeitsbelastung vor allem eine unehrliche und unbefriedigende Kommunikation, mangelnde Wertschätzung durch Vorgesetzte, eine streng hierarchische Führung sowie anhaltende Konflikte und Unstimmigkeiten mit Kollegen beklagt. Darüber hinaus werden häufig Entscheidungsspielräume, die Übernahme von Verantwortung und eine abteilungsübergreifende, wohlwollende Zusammenarbeit auf Augenhöhe vermisst. Unternehmen, die an diesen Punkten einer wertschätzenden Unternehmenskultur ansetzen, können auch ohne 4-Tage-Woche von zufriedenen Mitarbeitenden profitieren.

Gleichzeitig liegt es auch an jedem Einzelnen, etwas für die eigene Work-Life-Balance zu tun. Zum Beispiel, indem er sich Fragen stellt wie: Plane ich genügend Erholungsphasen ein? Bewege ich mich regelmäßig? Verbringe ich genügend Zeit mit Freunden und Familie? Wenn nicht, wie komme ich meinen Wünschen näher? Finde ich in meiner Freizeit einen wertvollen Ausgleich oder stresse ich mich zusätzlich? Nutze ich meine Freizeit sinnvoll oder ertappe ich mich immer wieder beim sinnlosen Scrollen durch die sozialen Medien? Was kann ich privat und beruflich ändern, um auch bei einer 5-Tage-Woche weniger gestresst und zufriedener zu sein?
 

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