Ende September 2018, Allianz Forum am Pariser Platz Berlin. Der Verein Forum Bildung Digitalisierung, eine Kooperation aus sieben großen deutschen Stiftungen – darunter Telekom, Bertelsmann, Bosch und Siemens – hatte zu einer Konferenz mit dem Titel „Lehrkräfte bilden für die digitale Welt“ eingeladen. Diskutiert wurde im Rahmen von Workshops und Vorträgen die zentrale Frage: Wie verändert die Digitalisierung Schulen und Universitäten, inwiefern müssen wir Bildung neu denken, um die Talente von morgen wirklich fit zu machen für all die neuen Anforderungen, die die Arbeitswelt 4.0 mit sich bringen wird?
Wenngleich es allgemeiner Konsens zu sein schien, dass sich etwas grundsätzlich am Bildungssystem ändern muss, dass es auf keinen Fall so weitergehen kann wie bisher, tat man sich im Detail dennoch schwer mit einer klaren Haltung zu den sogenannten neuen digitalen Kompetenzen und deren Vermittlung. Als ein junger Lehrer von Erfahrungen im Referendariat berichtete, zitierte er eine Ausbilderin mit dem Satz, der Tageslichtprojektor sei das Mittel der Wahl. Um, nach erwartbarem Gelächter im Publikum, aber wenig später zu verkünden, er hätte grundsätzlich überhaupt nichts gegen den Einsatz der Geräte. „Bildung in Zeiten der Digitalisierung hängt nicht von den Medien ab – kann sie auch gar nicht, weil Medien so extrem temporär sind. Es geht nicht um die Geräte, sondern darum, wie wir mit Informationen umgehen.“
Wenn man wollte, könnte man diesen Gedanken noch weiter zuspitzen, wie etwa der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem aktuellen Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Lange konzentrierten sich Schulen, so schreibt Harari, darauf, die Schüler mit Informationen vollzustopfen. Das wäre zwar in der Vergangenheit sinnvoll gewesen, weil Information knapp war, und hätte eine enorme Verbesserung für die Menschen gebracht. Im 21. Jahrhundert dagegen würden wir von Unmengen an Informationen überflutet, in einer solchen Welt wäre ein Mehr an Informationen so ziemlich das Letzte, was ein Lehrer seinen Schülern vermitteln sollte. „Stattdessen benötigen Menschen die Fähigkeit, Informationen zu interpretieren, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden und vor allem viele Informationsstückchen zu einem umfassenden Bild der Welt zusammenzusetzen.“
Diese Kompetenz, so könnte man einwenden, ist natürlich im Kern genau das, was Schule im Kontext einer westlichen liberalen Bildung eigentlich seit Jahrhunderten vermitteln will. Das gibt auch Harari zu. Allerdings beruhe das Konzept auf einer Grundannahme, deren Richtigkeit man inzwischen hinterfragen müsse. Solange man den Schülern jede Menge Daten und ein gewisses Maß an Freiheit vermittelte, so die Idee, würden sie sich ihr eigenes Bild von der Welt machen. „Und selbst wenn es dieser Generation nicht gelingen sollte, sämtliche Daten zu einer stimmigen und sinnvollen Geschichte der Welt zu bündeln, werde jede Menge Zeit bleiben, in Zukunft eine brauchbare Synthese zu entwickeln.“ Das Problem mit diesem Konzept sei nur: Genau diese Zeit haben wir nicht mehr.
Für Harari ist es der Mut zu großen Erzählungen, zu Narrativen, die uns den Ausweg zeigen. Auf der Konferenz im Allianz Forum verdichtete sich alles auf den Begriff der Haltung. Wir müssten uns, so Heike Schaumberg vom Institut für Erziehungswissenschaften der HU Berlin, dringend von der Vorstellung lösen, es ginge bei der Vermittlung der geforderten neuen Kompetenzen hauptsächlich um die Vermittlung von Wissen über den Einsatz neuer Medien. „Kompetenzen sind für mich weit mehr als Wissen. Haltung, Motivation, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Innovationsbereitschaft, also der Mut, Dinge anders zu machen, all das gehört auch dazu.“
Christine Redecker, die für die Gemeinsame Forschungsstelle (JRC) der Europäischen Kommission an der Erarbeitung eines EU-Rahmens für die digitale Kompetenz von Lehrenden beteiligt war, formulierte es so: Die Kompetenzen, die wir für den Arbeitsmarkt der Zukunft benötigen, haben nur marginal etwas mit dem Wechsel von einem Gerät zum anderen zu tun. „Womit wir es zu tun haben, ist eine andere Form von Zusammenarbeit, eine andere Form von Kommunikation. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Modell, dass vorne einer steht und alle zuhören, nicht mehr funktioniert. Wir müssen den Frontalunterricht, der uns im Industriezeitalter so weit vorangebracht hat, aufbrechen.“
Nun sind die Voraussetzungen hierfür, auch das fand auf der Konferenz Erwähnung, in Deutschland gar nicht so schlecht, wie es angesichts der Berichte über den mangelhaften technischen Standard und die allgemein desolate finanzielle Lage des deutschen Schulsystems den Anschein hat. „Das erste, was wir in Deutschland immer sehen, sind Probleme“, so Christine Redecker. „Und zwar genau dort, wo andere Nationen Chancen sehen.“ Man müsse jetzt den Mut haben, die von der Politik ja angekündigten Unterstützungen auch anzunehmen und in konkrete Projekte umzusetzen. Beispielsweise sollen im Rahmen des Digitalpaktes des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in den nächsten fünf Jahren fünf Milliarden Euro an die rund 40.000 Grundschulen, weiterführenden allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen ausgeschüttet werden. Das Geld soll bei der Ausstattung mit Breitbandanbindung, WLAN und technischen Geräten unterstützen.
Was in Ansätzen schon möglich ist, wenn man den von Frau Redecker und anderen eingeforderten Perspektivwechsel tatsächlich zulässt, davon wusste der junge Lehrer und grundsätzliche Freund des Tageslichtprojektors am Ende zu berichten. Parallel zu seiner Tätigkeit an einer Berliner Gesamtschule engagiert er sich im Global Goals Curriculum Verein. Ziel ist es, die 17 von den Vereinten Nationen bis 2030 formulierten Ziele für Nachhaltige Entwicklung für den Lehrplan anzupassen. „Es hilft schon enorm, den Fokus so groß wie möglich zu machen. Digitalisierung um ihrer selbst willen ist sinnlos. Es geht darum, die großen Zukunftsfragen anzugehen.“