»Wir müssen das Konzept der Arbeit neu denken.«

Arbeit und Leben gelten als Gegensätze. Doch das ist eigentlich grundfalsch, findet der Philosoph, Autor und Journalist Thomas Vašek.
Illustration: Luisa Jung
Illustration: Luisa Jung
Interview: Klaus Lüber Redaktion

Herr Vašek, was ist eigentlich Arbeit?
Arbeit ist ganz einfach das, was als Arbeit gilt, was wir in der Gesellschaft in bestimmten Kontexten als Arbeit anerkennen.

Aber Arbeit hat doch auch ganz bestimmte Merkmale. Arbeit ist etwas, das wir tun müssen – im Unterschied zur sogenannten Freizeit, die wir so gestalten können, wie wir wollen.
Das klingt erst einmal stimmig, aber wenn man genau darüber nachdenkt, wird sehr schnell klar, dass man in große Schwierigkeiten kommt, wenn man versucht, Arbeit als bestimmte Tätigkeit und in Abgrenzung zur Freizeit oder Muße zu definieren.

Warum?
Weil es große Teile unseres Lebens gibt, die zwar nicht als Arbeit gelten, bei denen es uns aber dennoch schwerfällt, sie als Nicht-Arbeit zu kategorisieren. Nehmen Sie die Pflege von Angehörigen, die Erziehung von Kindern oder jegliche Form von ehrenamtlicher Tätigkeit.

Sie gelten nicht als Arbeit, weil man keinen Lohn für sie bekommt, weil ihnen kein klassischer Arbeitsvertrag zugrunde liegt.
Und doch plädiere ich stark dafür, sie als Arbeit zu deklarieren. Denn all diese Tätigkeiten weisen ein wesentliches Charakteristikum auf, das meiner Meinung nach Arbeit von Nicht-Arbeit unterscheidet: Es besteht darin, dass Arbeit wunschunabhängige Gründe schafft. Arbeit gibt Ihnen einen Grund, bestimmte Dinge zu tun auch wenn Sie keine Lust oder keinen Wunsch dazu verspüren. Arbeit ist dadurch bestimmt, dass sie Verpflichtungen schafft.

Gut, angenommen, man ließe sich darauf ein: Welchen Nutzen hätte man davon, Arbeit in diesem Sinne umzudeklarieren?
Es würde uns die Möglichkeit geben, die Rolle von Arbeit für den einzelnen Menschen vollkommen neu zu denken. Plötzlich wäre Arbeit nicht mehr nur das notwendige Übel, das es uns ermöglicht, zu leben, sondern die Arbeit wäre ein notwendiger und wünschenswerter Teil unseres Lebens.

Aber wie kann etwas wünschenswert sein, wenn es uns zu etwas zwingt?
Nein, wesentlich an der Arbeit, wie ich sie verstehe, ist nicht, dass sie uns zu etwas zwingt, sondern dass sie uns ermöglicht, eine Reihe von inneren Werten zu schaffen, die absolut grundlegend sind für das, was wir unter einem gelingenden Leben verstehen. Ich würde sagen, gute Arbeit ist eine Praxis im philosophischen Sinne: Sie schafft nicht nur äußere, sondern auch innere Güter, die zu einem gelingenden Leben beitragen. Wesentlich an der Arbeit ist nicht nur, dass sie es uns ermöglicht, Geld zu verdienen. Sondern indem wir arbeiten, generieren wir Identität und Sinn, wir machen Erfahrungen, bisweilen geraten wir sogar in einen regelrechten Glückszustand und vieles mehr.

So schlüssig das klingt, es ist ja ein Idealzustand, den Sie hier beschreiben. Mit dem Alltag vieler Arbeitnehmer hat dies doch nur wenig zu tun, oder?
Richtig, aber gerade diese Neudefinition und Wertschätzung von Arbeit als Teil und nicht als Gegensatz zum sogenannten guten Leben ermöglicht es uns, neue Konzepte zu entwickeln, die die Verhältnisse wesentlich verbessern könnten. Wir haben ja gar keine andere Wahl. Zum einen wird sich Arbeit, vor allem durch die Digitalisierung, stark verändern – ob wir wollen oder nicht. Zum anderen herrscht bei vielen Menschen eine gewisse Unzufriedenheit darüber, wie Arbeit organisiert ist. Das zeigen die Diskussionen über Work-Life-Balance bis hin zum Grundeinkommen. Und drittens zeichnet sich schon jetzt ab, dass Arbeit durch seine enorme integrative Kraft eine herausragende Rolle bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen wie Populismus und Migration spielen wird.

Was darf man sich unter solchen „neuen Konzepten“ vorstellen?
Vorstellbar wäre zum Beispiel so etwas wie ein Lebens-Arbeits-Vertrag. Die Kernidee ist, den Menschen nicht von der Arbeit zu befreien, sondern mehr Freiheitsspielräume in die Arbeit einzubringen und damit Arbeit und Leben besser miteinander zu verbinden. Dazu setzt man bei den Arbeitsverträgen an und legt fest, dass Arbeitnehmer das Recht haben, bestimmte Zeitkontingente in Anspruch zu nehmen. Nicht als Urlaub, sondern um andere Dinge zu tun – etwa einen Roman zu schreiben oder sich ehrenamtlichen Projekten zu widmen. Der Trick ist nun, dass sich der Arbeits-Status nicht verändert. Sie müssen dafür nicht kündigen, können aber Dinge tun, die überhaupt nichts mit dem Job zu tun haben.

Dafür gibt es doch schon heute das Modell des Sabbaticals.
Mit dem Unterschied, dass ein Sabbatical immer freiwillig von einem Unternehmen gewährt werden muss, während die Arbeitnehmer im Rahmen eines Lebens-Arbeits-Vertrags das Recht zu einer Auszeit hätten. Außerdem könnte man darüber nachdenken, das Modell mit einem Grundeinkommen zu kombinieren, das dem Arbeitnehmer in dieser Zeit ausgezahlt wird.

Und wer soll das finanzieren?
Der Arbeitgeber. Wobei es durchaus möglich wäre, den Staat als Vertragspartner mit ins Boot zu holen. Man hätte es dann gewissermaßen mit einer modifizierten und wie ich finde sinnvolleren Variante eines Grundeinkommens zu tun. Es wäre nicht bedingungslos, wie aktuell diskutiert, sondern an einen Arbeitsvertrag gekoppelt. Wäre es bedingungslos, bestünde das Risiko, den Status von Arbeit zu schwächen. Und da ich glaube, dass Arbeit eine zentrale Rolle für ein gelingendes Leben spielt, wäre das für mich das falsche Signal.

Halten Sie einen solchen Lebens-Arbeits-Vertrag in naher Zukunft für realisierbar?
Natürlich ist nicht davon auszugehen, dass sämtliche Unternehmen freiwillig zu solchen Veränderungen bereit sind. Bei großen Firmen auf der Suche nach begehrten Fachkräften beobachten wir zwar schon seit einiger Zeit den Trend zu immer flexibleren Arbeitsmodellen. Aber um der Masse an Arbeitnehmern solche Möglichkeiten zu geben,
bedarf es sicherlich gesetzlicher Festschreibungen.

Das klingt im Augenblick, ehrlich gesagt, etwas unrealistisch.
Natürlich ist es in gewissen Bereichen aktuell schwer vorstellbar, dass sich ein Mitarbeiter für ein halbes Jahr einfach zurückzieht. Andererseits halte ich es prinzipiell für möglich, dass sich Unternehmen darauf einstellen. Irgendwann einmal mussten sich Unternehmen schließlich auch darauf einstellen, dass es so etwas wie einen vertraglich garantierten Urlaub gibt. Oder dass Mitarbeiter nur noch acht und nicht mehr zwölf Stunden arbeiten.

Thomas Vašek
geboren 1968 in Wien, ist Chefredakteur des philosophischen Magazins Hohe Luft. 2013 erschien sein Buch „Work-Life-Bullshit. Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt“.

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