Gute Arbeit, Leute!

Immer mehr Unternehmen reagieren auf die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt. Vor allem der digitale Wandel erfordert neue Konzepte in der Arbeitsplatzgestaltung und Unternehmensführung.
Illustration: Luisa Jung
Illustration: Luisa Jung
Alexandra Endres und Marcus Rohwetter Redaktion

Wäre der Job eine Ehe – sie wäre längst geschieden. Neun von zehn Beschäftigten in Deutschland machen Dienst nach Vorschrift oder haben innerlich gekündigt, das haben die Umfragen des Forschungsinstituts Gallup ergeben. Die meisten sitzen ihre Zeit ab und bekommen am Monatsende ihr Geld, warten aufs nächste Wochenende oder planen ihren Ruhestand.

Hatte Beruf nicht ursprünglich etwas mit Berufung zu tun? Der Arzt wollte einmal Leben retten, doch heute schiebt er Doppelschichten im unterbesetzten Krankenhaus. Der Anwalt wollte für Gerechtigkeit kämpfen, doch nun hockt er in der Rechtsabteilung eines Konzerns. Statt mit seinen Erfindungen die Welt zu verbessern, erledigt der Ingenieur die Auftragstüfteleien im Rahmen seines Budgets. Und der Vertriebsmitarbeiter löst nicht mehr die Probleme seiner Kunden, sondern erfüllt die Zielvorgaben der Umsatzplanung.
Vor allem große Organisationen verwandeln selbst die leidenschaftlichsten Zeitgenossen konsequent in Zyniker. Das Streben nach effizienten Prozessen und niedrigen Kosten vertrage sich nicht mit der sprunghaften und unberechenbaren Natur des Menschen, sagt der Managementberater Reinhard Sprenger: „Kreativität hängt vom Zufall ab. Sie ist nicht planbar, das ist ihr Wesenskern. Was aber ist das Wesen eines Unternehmens? Dass es Arbeitsprozesse organisiert, plant und steuert. Dass es den Mitarbeitern Ziele setzt, an denen sie sich orientieren sollen. Dass es Budgets plant und Stellenbeschreibungen entwickelt. Das geht nicht zusammen.“

Langsam beginnen Konzernspitzen zu verstehen, dass die Umstände von Arbeit auf deren Ergebnis einwirken. Sie experimentieren mit alternativen Formen des Miteinanders oder schaffen ungewöhnliche Arbeitsorte und Arbeitsweisen, um die schädlichen Nebenwirkungen großer Organisationen so klein wie möglich zu halten. Und einige betreiben dabei einen erstaunlichen Aufwand.

Samsungs Wunderbüro

Samsung zum Beispiel. Um die Mitarbeiter im Silicon Valley auf gute Ideen zu bringen, hat der Konzern die alte Niederlassung im kalifornischen San Jose abreißen und durch einen Neubau ersetzen lassen, in dem die Arbeit von Gehirnforschern und Kulturanthropologen ebenso steckt wie aufwendige Datenanalysen. Herausgekommen ist eine neue Art von Bürogebäude für bis zu 2000 Beschäftigte – eine 300 Millionen Dollar teure Wette auf den Faktor Mensch.

Der kalifornische Architekt Kristoffer Tendall hat das Wunderbüro entworfen. „Unser Auftrag war, ein Hauptquartier zu errichten, das zufällige Begegnungen zwischen Menschen erzeugt und auf diese Weise neue Ideen entstehen lässt“, sagt er. Tendall ist überzeugt davon, dass es keineswegs vertane Zeit ist, wenn Menschen plauschen oder Mittagsschläfchen halten, etwas spielen und dann wieder hoch konzentriert lesen, mal nach Einsamkeit streben und dann wieder nach Geselligkeit. All das muss man vielmehr akzeptieren und fördern, auch wenn es auf den ersten Blick unproduktiv wirkt.

Der Soziologe Ronald Burt von der Universität Chicago hat nachgewiesen, dass der kreative Funke nur zwischen Menschen überspringt – aber nie zwischen denselben. Kein Wunder also, dass Konferenzen im Kreis der immer gleichen Kollegen so langweilig sind: Jeder wiederholt seine Lieblings-­vorschläge, und Debatten drehen sich so lange im Kreis, bis alle genervt sind. Erst wenn Fremde aufeinandertreffen, ändere sich das, so Burt.

Um solche Begegnungen zu erzeugen, haben Kristoffer Tendall und seine Leute die Samsung-Mitarbeiter von Kulturanthropologen befragen lassen: Wann arbeiten sie? Wo arbeiten sie? Mit wem arbeiten sie? Wie oft machen sie Kaffeepause, wann haben sie Konferenzen, wo, wie lange und mit wem? Dann haben die Datenspezialisten ihre Computer angeworfen und anhand der Informationen 600 Avatare erstellt – digitale Abbilder einzelner Angestellter. Die ließ Tendalls Arbeitgeber NBBJ durch das simulierte Gebäude wuseln. Interessante Dinge seien da herausgekommen, berichtet der Architekt. „Etwa, dass einer aus dem Marketing täglich vier bis fünf Meetings mit verschiedenen Abteilungen hat und ständig im Gebäude unterwegs ist, ein Mitarbeiter der Forschungsabteilung aber immer am selben Ort bleibt.“ Die beiden laufen sich nie über den Weg, lernen sich nicht kennen, können nicht gemeinsam auf frische Ideen kommen.

Also plante Tendall um, schuf Freitreppen, verlegte die Toiletten, platzierte offene Küchen in saalartige Räume, legte ruhige Einzelarbeitsplätze an den Außenrand des Gebäudes, Sitzgruppen und Konferenzzonen zum Innenhof hin. Auf die Weise maximierte er die Treffpunkte für die Belegschaft. Zudem wurden offene Gärten in jedes dritte Samsung-Stockwerk eingezogen. Jeder Arbeitsplatz sollte nicht weiter als eine Treppe vom nächsten Grün entfernt liegen. Gräser und Blumen wiegen sich dort im leichten Windzug, man kann herumschlendern, und von kleinen Tischen im Schatten aus hat man den weiten Blick bis auf die Berge und die Bucht von San Francisco.

Sinn jenseits der Zahlen

Ob das alles am Ende funktioniert, ist allerdings ungewiss. Wahr ist nämlich auch, dass die Geschichte der idealen Arbeitsumgebung eine lange Reihe gebrochener Versprechen ist, die vor allem Organisationsgurus, IT-Berater und Inneneinrichter reich gemacht hat. Unzählige plausibel klingende Konzepte sind schon an der menschlichen Natur gescheitert. Im Einzelbüro oder den berüchtigten Cubicles saßen Menschen, ohne abgelenkt zu werden, ihre Stunden ab, verloren darüber aber den Blick fürs große Ganze. Das war im Großraumbüro anders, doch leider konnte sich dort niemand mehr konzentrieren, und introvertierte Charaktere bekamen schnell einen Burn-out. Auch das Homeoffice war keine Lösung, weil sich irgendwann der innerbetriebliche Zusammenhalt auflöste. Niemand wusste mehr, wer überhaupt noch da war und was er genau tat. Yahoo hatte damit ein Riesenproblem, bis Firmenchefin Marissa Mayer vor drei Jahren die gesamte Belegschaft an die Schreibtische in der Zentrale zurückbeorderte. Hilft alles nichts, sagt der Unternehmensberater Tim Leberecht. Arbeitgeber müssten viel mehr tun, wollten sie Resignation und Zynismus bei ihren Leuten beseitigen und neue Leidenschaft entfachen. Es gehe darum, so Leberecht, „einen Sinn jenseits der Zahlen zu stiften“.

Dummerweise arbeiten mehr Menschen denn je in Großorganisationen, wie Gary Hamel von der London Business School herausfand. Und statt zu tun, woran einmal ihr Herz hing und was sie als ihre Berufung betrachteten, erledigen sie zunehmend Verwaltungskram. So stieg die Zahl der im Management und im Bürobetrieb beschäftigten Menschen in den USA seit 1983 um 90 Prozent – während alle anderen Tätigkeitsfelder lediglich um 40 Prozent zunahmen. Ähnliche Entwicklungen hat Hamel auch in anderen Ländern ausgemacht, etwa in Großbritannien. Sie führen dazu, dass Entscheidungen länger auf sich warten lassen, weil mehr Hierarchieebenen berücksichtigt werden. Am Ende müssen selbst kreativste Mitarbeiter die Anschaffung von Bleistiften begründen. Genau dadurch werden sie zu unmündigen Deppen degradiert. Und genau so entstehen Verdruss, Resignation und Zynismus.

Also versuchen Unternehmen, diese typischen Nebenwirkungen wachsender Organisationen auszuschalten, indem sie mit dem herkömmlichen Verständnis von Arbeitszeit, -ort und -umständen brechen. Ein Beispiel hierfür ist der deutsche Medizingeräte-Hersteller Aesculap. Computermodelle, durchanalysierte Bewegungsdaten von Mitarbeitern oder neurowissenschaftliche Forschungserkenntnisse spielen hier keine große Rolle. Die Ideen kommen trotzdem. Der richtige Umgang mit der menschlichen Natur ist bei Aesculap eher eine organisatorische Frage. Das deckt sich mit dem, was Managementberater sagen: Am Ende sind nicht die bunten Farben am Arbeitsplatz entscheidend, und auch die Architektur hilft nur begrenzt. Viel wichtiger für den Erfolg eines Unternehmens ist, wie es mit seinen Mitarbeitern umgeht.

Das Wichtigste sei, sich ganz zu Anfang mit den Kollegen auf eine Sache zu einigen, sagt Thomas Hagen, der bei Aesculap für Innovationen sorgen soll. „Was genau ist unser Problem? Oder das Problem des Kunden?“ Dass beispielsweise ein Chirurg sein Instrument nur umständlich handhaben kann, dass er während der Operation zu viele Informationen verarbeiten muss, dass ein Krankenhaus Probleme hat, seine Instrumente steril zu halten, oder einfach, dass ein Name für ein neues Aesculap-Produkt fehlt.

Freiraum zur Kreativität

Wie wichtig es ist, den Mitarbeitern die Freiheit zur kreativen Spinnerei zu lassen, sagt Managementberater Sprenger seinen Klienten tagein, tagaus. „Die Manager müssten viel weniger tun und den Leuten viel mehr zutrauen.“ Fünf Dinge, sagt er, solle ein Manager besser lassen: „Er sollte die Mitarbeiter nicht als Mittel zum Zweck betrachten, sie nicht wie kleine Kinder behandeln, sie nicht versuchen zu verbessern, ihre Autonomie nicht verletzen und nichts als alternativlos bezeichnen.“ Nur so entstehe der Freiraum zur Kreativität.
Schon lange vermuten Wissenschaftler, dass Menschen besonders gut arbeiten, wenn sie nicht ständig von ihren Chefs gestört werden. In vielen Management-Lehrbüchern findet sich die Geschichte von der Abteilung, die bei einer Restrukturierung des früheren Fotozubehör-Herstellers Eastman Kodak einfach vergessen wurde. Nachdem ihre Vorgesetzten gefeuert worden waren, machten die Mitarbeiter einfach weiter ihren Job. Und sie machten ihn offenbar gut: Die Konzernspitze bemerkte das erst Monate später, nachdem sich ein zufriedener Kunde überschwänglich bedankt hatte.

Aesculap hat seine Leute zwar nicht vergessen, aber ihnen sehr viel Spielraum gelassen. Heraus kam eine völlig neue Fabrik. Die alte war zu klein geworden. Also ging Produktionsleiter Thomas Philipp im Jahr 2009 mit einer ganz besonderen Idee zur Geschäftsführung. Zurück kam er mit 50 Millionen Euro und der Erlaubnis, die Mitarbeiter – innerhalb der vom Vorstand abgesegneten Rahmenbedingungen – einfach mal machen zu lassen. Jeder der 500 Beschäftigten sollte das ganze Werk neu denken, nicht nur seinen eigenen Arbeitsplatz betrachten, forderte Philipp von ihnen: „Lasst uns die ideale Fabrik bauen, habe ich gesagt. Aber euch muss klar sein, dass am Ende niemand mehr seinen bisherigen Job machen wird. Alles wird sich verändern.“

Was dann geschah, begeistert ihn noch heute. Arbeiter aus der Motorenfertigung zerbrachen sich den Kopf über die Containerproduktion und umgekehrt. Sie fuhren ins Ausland, zu Unternehmen nach Schweden, um sich inspirieren zu lassen. „Was glauben Sie, wie stolz die Kollegen zurückkamen“, sagt Philipp, „und wie gut die Leute nachher Bescheid wussten über das, was hier entstand?“ Getragen von der Begeisterung, entstand die neue Fabrik – und mit ihr wuchs der Umsatz von Aesculap. Die Mitarbeiter wussten selbst am besten, was gut für sie war. Und für das Unternehmen. Das Vertrauen war zuerst da. Die Zahlen folgten. Effizienz stand am Ende eines kreativen Prozesses, nicht am Anfang.

Den besten Blick in die Fabrikhalle hat man von einem kleinen Balkon an der Innenseite. Hier stand auch Kanzlerin Merkel, als sie im März diesen Jahres zu Besuch war. Sie hat Menschen an Maschinen gesehen, Paletten, Stahl und Kisten und außerdem zwei Roboter. Mit ihren Greifern packen sie halb fertige Teile und bringen sie von einem Ort zum anderen. Die Roboter heißen Bob und Agnes, so wie zwei populäre Figuren aus den Minions-Trickfilmen. Die Fabrik gilt als eine der modernsten im ganzen Land. Sie wirkt nicht ungewöhnlich und war doch das Ergebnis eines ungewöhnlichen Schöpfungsprozesses.

Von dem kleinen Balkon aus hat die Kanzlerin gesehen, wie gut das hier funktioniert und wie zukunftsfähig ein Unternehmen sein kann. Doch vor allem hat Merkel gesehen, dass Begeisterung und Innovation von ganz allein entstehen können, wenn man seine Leute einfach mal machen lässt.

Erstveröffentlichung: Die ZEIT (Nr. 46), 3. November 2016.
 

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