Als der Schriftsteller Aldous Huxley in seinem Hauptwerk „Brave New World“ den Fordismus zur Staatsreligion erklärte, hatte er viel mehr im Sinn als nur die Darstellung einer auf maximale Effizienz getrimmten Arbeitsökonomie. Das Buch schrieb er Anfang der 1930er-Jahre unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, der Hinwendung vieler Menschen zum Faschismus und des Verfalls der Werte. Die Fließbandarbeit, die Henry Ford in der Automobilfertigung einführte, war für Huxley einer der Auslöser des kulturellen Niedergangs, Symbol für die Entfremdung vom Sinn der Arbeit und Beginn einer dystopischen, sinnentleerten, schrecklich schönen neuen Welt.
Aus heutiger Sicht mag man sich wundern. Die industrielle Revolution hat zumindest für einen Teil der Menschheit nie gekannten Reichtum hervorgebracht. Die exponentiell gestiegene Wertschöpfung sorgte dafür, dass die medizinische Versorgung besser wurde, dass Arbeiter mehr Freizeit erkämpfen konnten, dass mehr Menschen ihren Bedürfnissen nachgehen konnten und somit eine breite kulturelle, gesellschaftliche Basis für Wohlstand geschaffen wurde – ein starker Mittelstand, der Stabilität brachte und Demokratie ermöglichte. Ohne ihn wären die letzten 70 Jahre in Europa sicherlich nicht so friedlich verlaufen, und manche sehen den aggressiven Putinismus als Folge der extremen Wohlstandskluft in Russland, als Analogie zur Bedeutung der Weltwirtschaftskrise für den Faschismus der 1930er-Jahre.
Wie dem auch sei: Die Arbeit in der Industrie hat sich seit Henry Fords Zeiten gewandelt. Am Fließband arbeiten nun immer häufiger Maschinen. Die digitale Revolution hat das Verständnis von Arbeit auf ein neues Niveau gehoben. Wo Roboter die einfachen Tätigkeiten übernehmen, wird von Menschen mehr erwartet: Sie müssen Kreativität und Ideen einbringen, was wiederum eine höhere Qualifikation erfordert. „New Work“ lautet die Devise. Auch dieser Begriff wurde für die Automobilindustrie erfunden. Wie der Fordismus einst die Effizienz in den Fabriken steigerte, wollte der Manager Frithjof Bergmann unter dem Schlagwort „New Work“ in den 1970ern bei General Motors das Wohlbefinden der Arbeiter steigern – damit sie sich für höhere Tätigkeiten qualifizierten.
Sinnstiftung durch höhere Qualifikation
Bei General Motors hatten zuvor Rationalisierungsmaßnahmen für eine steigende Arbeitseffizienz gesorgt, sodass Massenentlassungen unausweichlich schienen. Bergmann schlug der Firmenleitung damals vor, nicht die Leute zu entlassen, sondern die Arbeitszeiten zu verkürzen. Den Angestellten sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich weiterzubilden. „New Work“ bezeichnet demnach kein konkretes Arbeitsmodell, sondern steht für eine persönliche Sinnstiftung in der Arbeitswelt durch höhere Qualifikation. Der Begriff steht für das Streben der arbeitenden Menschen nach Sinn und einem guten Leben durch Weiterbildungen, flexibleres Arbeiten, familienfreundliche Strukturen, Gesundheitsleistungen, einer ausgewogenen Work-Life-Balance.
Ein Treiber dieser Entwicklung war und ist der zunehmende Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften, der den Wettbewerb unter den Arbeitgebern bestärkt. Dazu kommt der digitale Wandel, der ganz neue Flexibilität von Arbeitsstrukturen, Fern- und Teamarbeit erlaubt. Dazu gehört auch das Homeoffice, das mit der Corona-Pandemie seine Feuertaufe bestand. Es gehört inzwischen bei fast jedem Unternehmen zu den festen Optionen bei der Arbeitsgestaltung.
Doch nur wenige Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind glühende Anhänger des Homeoffice. „Der persönliche Kontakt der Mitarbeiter untereinander schafft eine Dynamik und Innovationskraft, die auch Videokonferenzen nicht ersetzen können“, so Stefan Heidbreder, Geschäftsführer der Stiftung Familienunternehmen. Er zitiert eine hauseigene repräsentative Studie, nach der 27 Prozent der befragten Unternehmen eine geringere Arbeitnehmerproduktivität durch das Homeoffice verzeichneten. Nur 5,7 Prozent bemerkten eine Steigerung. Bei einem Drittel blieb die Produktivität gleich.
HomeOffice gilt als unproduktiver
Dass Arbeitgeber dennoch bereit sind, auch ohne Pandemie bis zu einem bestimmten Grad Arbeit im Homeoffice zu tolerieren, hat einen anderen Grund: Der Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte nimmt weiter zu. Nach einer aktuellen Umfrage unter 200 Unternehmen des Karriereportals Xing im Auftrag von Forsa ist vor allem seit der Corona-Pandemie die Personalsuche für Unternehmen noch schwieriger geworden. Das gab jedenfalls jedes zweite Unternehmen an. Zudem war bei vielen die Fluktuation der Beschäftigten während der Pandemie gestiegen. Dass die Wechselbereitschaft unter Deutschlands Arbeitnehmenden sehr hoch ist, hatte eine andere Studie gezeigt, der zufolge vier von zehn Deutschen offen für einen neuen Job oder bereits konkrete Schritte gegangen waren, um eine neue Tätigkeit zu finden.
Der Produktivität sind häufige Wechsel von Mitarbeitenden nicht zuträglich. Eingespielte Abläufe, Kenntnisse über Strukturen und Anforderungen, erworbene Qualifikationen, effiziente Kommunikation – verlässt der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin das Unternehmen, ist das alles futsch und muss mühsam neu gelernt werden. Dies gilt allerdings für beide Seiten. Was aber finden dann die Wechselwilligen bei den Unternehmen, zu denen sie wechseln, um dort wieder von vorne anzufangen?
Sie finden: kompetentere Führung, bessere Work-Life-Balance, eine spannendere Tätigkeit. Das sind nämlich laut Xing-Studie die Hauptmotive für den Wechsel in ein anderes Unternehmen. Interessanterweise glauben die von den Arbeitnehmer:innen verlassenen Unternehmen dies meist nicht. Sie schätzen der Umfrage zufolge eher als Beweggründe für den Jobwechsel, dass finanzielle Motive oder die Konkurrenz anderer Arbeitgeber der wahre Grund seien. Doch obwohl in Bewerbungsgesprächen das Gehalt mit 83 Prozent weiterhin eine zentrale Rolle für Arbeitnehmer:innen spielt, sind finanzielle Anreize laut Xing tatsächlich nur bei jedem fünften Jobwechsel ausschlaggebend.
Denn neben dem Anspruch an Gehalt und Tätigkeit, sind die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Jobsicherheit, flexible Arbeitszeiteinteilung, Unternehmenskultur und gutes Führungsverhalten für Beschäftigte von hoher Relevanz. Auch der Aspekt Nachhaltigkeit gewinnt im Arbeitskontext immer mehr an Bedeutung, wie 37 Prozent der Arbeitnehmer:innen in der Umfrage angaben. Diese sogenannten „weichen Faktoren“ werden bei der Entscheidung für oder gegen ein Unternehmen immer wichtiger. Deshalb gelte es für Unternehmen nicht mehr nur den Fokus auf die Qualifikationen von Bewerber:innen zu richten, sondern auch darauf, ob sie ein guter „Cultural Fit“ sind - also zur Unternehmenskultur passen, so Xing. Unternehmenskulturelle Faktoren sind also wichtig für das Recruiting. Unternehmen müssen diese Bedürfnisse von Jobsuchenden erkennen und sich entsprechend aufstellen.
Vielfalt macht Unternehmen attraktiv
Und was erwarten Mitarbeiter:innen von „ihrem“ Unternehmen? Vor allem personelle Vielfalt. Sie macht Unternehmen anziehend für Nachwuchskräfte, ergab eine Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte unter mehr als 15.000 Arbeitskräften in zehn europäischen Ländern. Diese Heterogenität betrifft nicht nur Alter, Geschlecht, soziale oder ethnische Herkunft, sondern auch die Art, wie Mitarbeiter mit dem Unternehmen zusammenarbeiten: „Belegschaften bestehen aus Mitarbeitern verschiedener Altersgruppen und Beschäftigungsverhältnisse, die sich wiederum hinsichtlich ihrer Motivationen und Bedürfnisse unterscheiden“, so die Deloitte-Studie. Dies stelle Unternehmen vor neue Herausforderungen bei der Gestaltung einer „zielgruppenspezifischen Employee Experience“.
Was diese Herausforderungen angeht, sehen die Studienautoren Nachholbedarf in den Unternehmen. Laut ihrer Studie würden nur 16 Prozent der befragten Unternehmen Maßnahmen durchführen, die auf die Belange einer heterogenen Belegschaft eingehen. Ein Faktor wird in den Unternehmen besonders vernachlässigt: die Einbindung älterer Arbeitnehmer. Mitarbeiter über 55 Jahre brächten „große Motivation und Flexibilität“ mit, wie eine andere Deloitte-Studie zeigt. Ihre Zufriedenheit sei in nahezu allen Berufsgruppen größer als bei jüngeren Kollegen.
Danach wollen zwei Drittel der deutschen Befragten in der Altersgruppe 50plus bis 65 oder länger arbeiten. Sie sind offener für alternative Beschäftigungsmodelle wie Selbstständigkeit und Freelancing als die Jüngeren. Finanzielle Stabilität, ein umfassender Erfahrungsschatz, ein großes Netzwerk fördern bei Älteren die Bereitschaft, Neues zu wagen. Fazit: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen daher gezielt um ältere Talente werben und erfahrene Mitarbeiter langfristig an sich binden. Dennoch, so Deloitte, bleibe dieses Potenzial vielfach ungenutzt.
Attraktive Arbeitsbedingungen bilden die Basis, um Fachkräfte zu rekrutieren und langfristig zu binden. Aber was macht Attraktivität von Arbeit aus? Arbeitsplatzsicherheit und Gehalt sind laut Deloitte die beiden wichtigsten Faktoren. Direkt danach kommen Forderungen nach klaren Verantwortlichkeiten, effektiver Führung, einer vertrauensvollen Arbeitsatmosphäre und dem Sinn der Arbeit.
Auch Führungskräfte brauchen Soft Skills
Und welche Fähigkeiten müssen Arbeitnehmende mitbringen? Welche Potenziale sind entscheidend für die neue Arbeitswelt? Fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten reichen nicht aus – den Soft Skills kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Gerade in der Digitalisierung rücken menschliche Kompetenzen wie Problemlösefähigkeit, Kommunikation und Teamwork in den Fokus, um die Chancen moderner Technologien zu maximieren. Diese Erkenntnis spiegelt sich jedoch nicht ausreichend unter Mitarbeitern wider: Während etwas mehr als die Hälfte der Befragten in Deutschland ihre fachlichen und technischen Fähigkeiten weiterentwickeln will, sieht nur etwas mehr als ein Drittel Veränderungsbedarf bei seinen Soft Skills. Nicht zuletzt müssen auch die Führungskräfte umdenken. Um die zunehmend vielfältigen, heterogenen Belegschaften anzuleiten, brauchen sie mehr als Fachwissen. Auch für sie werden Soft Skills wie Einfühlungsvermögen und Flexibilität wichtiger.
Wohin die Reise geht, zeigt der Wandel vom Fordismus zur New Work jedenfalls augenfällig: Während die Welt in Aldous Huxleys „Neuer Welt“ von „Controllern“ beherrscht wird, die jedem Individuum seine Rolle wie einem Rädchen im Getriebe zuweisen, ist in der „New Work“, der neuen Arbeitswelt, die Verantwortung durch alle Mitarbeitenden geteilt. Das erfordert von jedem Individuum im Unternehmen demokratische Mitbestimmung – mithin das Gegenteil von dem, was totalitäre Systeme von ihren Untertanen verlangen.
WAS MACHT GUTE FÜHRUNG AUS?
Zehn Kernaussagen aus Tiefeninterviews mit Führungskräften der Initiative für Neue Qualität der Arbeit
1. Flexibilität und Diversität sind weitgehend akzeptierte Erfolgsfaktoren.
2. Prozesskompetenz, die Fähigkeit zur professionellen Gestaltung ergebnisoffener Prozesse, ist für alle das aktuell wichtigste Entwicklungsziel.
3. Selbst organisierende Netzwerke sind das favorisierte Zukunftsmodell. Mit der kollektiven Intelligenz selbst organisierender Netzwerke verbinden Führungskräfte die Hoffnung auf mehr kreative Impulse, höhere Innovationskraft, Beschleunigung der Prozesse und Verringerung von Komplexität.
4. Hierarchisch steuerndem Management wird mehrheitlich eine Absage erteilt. Überwiegend wird die klassische Linienhierarchie klar abgelehnt und geradezu zum Gegenentwurf von „guter Führung“ stilisiert.
5. Kooperationsfähigkeit genießt Vorrang vor alleiniger Renditefixierung, weil traditionelle Wettbewerbsstrategien die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben.
6. Persönliches Coaching ist ein unverzichtbares Werkzeug für Führung. Die Durchsetzung eigener Vorstellungen über Anweisung sei kaum mehr möglich. Einfühlungsvermögen und Einsichtsfähigkeit werden wichtiger. Alle Akteure, ob Führungskraft oder geführte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, brauchen im Unternehmen mehr Reflexion und intensive Entwicklungsbegleitung.
7. Motivation wird an Selbstbestimmung und Wertschätzung gekoppelt. Während die motivierende Wirkung von Gehalt und anderen materiellen Anreizen tendenziell abnimmt, nimmt die Bedeutung von Wertschätzung, Entscheidungsfreiräumen und Eigenverantwortung zu. Autonomie wird Statussymbol, der wahrgenommene Sinnzusammenhang einer Tätigkeit bestimmt den Grad der Einsatzbereitschaft.
8. Gesellschaftliche Themen rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit. In der intuitiven Schwerpunktsetzung der Führungskräfte beschäftigen sich viele mit Fragen der gesellschaftlichen Solidarität und der sozialen Verantwortung von Unternehmen.
9. Führungskräfte wünschen sich Paradigmenwechsel in der Führungskultur. Mehr als drei Viertel der interviewten Führungskräfte sind davon überzeugt, dass der Standort Deutschland ohne eine grundlegende Änderung in der aktuellen Führungspraxis weit unter seinen Möglichkeiten bleibt.
10. Führungskultur wird kontrovers diskutiert. Trotz der im europäischen Vergleich guten Wirtschaftslage sehen die Führungskräfte die Kriterien, die ihnen im Kontext „guter Führung“ wichtig sind, nicht einmal zur Hälfte verwirklicht. Sie kritisieren eine seit Jahren bestehende Fehlentwicklung der Führungskultur.