»Gesundheit beginnt im Kopf«

Wer kümmert sich um die Gesundheit von Mitarbeitenden, die im Homeoffice sitzen? Ein Interview mit Ann-Christin von Ehr, Ärztliche Direktorin der Helios Arbeitsmedizin.

Ann-Christin von Ehr ist Ärztliche Direktorin der Helios Arbeitsmedizin.
Ann-Christin von Ehr ist Ärztliche Direktorin der Helios Arbeitsmedizin.
Interview: Mirko Heinemann Redaktion

Frau von Ehr, in der modernen, hybriden Arbeitswelt müssen die Arbeitnehmenden selbst mehr Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen. Wie hat sich die Arbeitsmedizin auf diesen Wandel eingestellt?

Wir Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner sind natürlich für alle Beschäftigten da, nicht nur für diejenigen, die in Präsenz im Betrieb arbeiten. Auch wir arbeiten häufig hybrid und haben digitale Angebote für diejenigen Beschäftigten entwickelt, die im Homeoffice arbeiten. Wir bieten beispielsweise eine digitale Ergonomieberatung an. Sollten sich ergonomische Fragestellungen im Homeoffice ergeben, dann lassen wir uns das Homeoffice auch zeigen. Der oder die Beschäftigte geht dann mit der Kamera einmal um den Arbeitsplatz herum und zeigt, wie er oder sie sitzt und arbeitet, wie Beleuchtung, Umgebung und die sonstigen Bedingungen sind. Wir kennen die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen in den Betrieben vor Ort und versuchen, diese entsprechend auf die hybriden Arbeitsbedingungen zu übertragen. Und da zeigt sich, dass viele Unternehmen darauf Wert legen, die Homeoffice-Arbeitsplätze genauso ausstatten zu lassen, wie sie eben sonst auch im Büro ausgestattet wären – etwa mit höhenverstellbaren Schreibtischen und ergonomischem Mobiliar.
 

Welche speziellen gesundheitlichen Fragen treten im Homeoffice auf?

Neben einer ergonomischen Büroausstattung geht es vor allem um die Frage, ob man wirklich ausreichend zwischen Freizeit und Arbeit trennt, beziehungsweise zwischen Hausarbeitszeit und Arbeitszeit. Mein Rat: Trennen Sie Privatsphäre und Arbeitsplatz. Trennen Sie einen Bereich ab, den Sie nur zum Arbeiten nutzen. Idealerweise auch optisch, so dass Sie sowohl eine räumliche als auch eine gedankliche Trennung zwischen dem Zuhause als Wohlfühlort und dem Arbeitsbereich haben.
 

»Mein Rat: Trennen Sie Privatsphäre und Arbeitsplatz.«
 

Arbeitsmedizinisch und ergonomisch wenig empfehlenswert, ist das Arbeiten auf dem Sofa oder im Bett. Das ist nicht das Setting, in dem man konzentriert arbeiten kann – und dort wird Arbeitsleben und Privatleben vermischt.
 

Was wäre denn die minimale Lösung für jemanden, der kein eigenes Arbeitszimmer zur Verfügung hat?

Es empfiehlt sich, einen klar abgegrenzten Bereich einzurichten, der ausschließlich dem Arbeiten dient – gegebenenfalls auch für administrative Aufgaben wie Korrespondenz oder Rechnungen.

Dort sollte ein Schreibtisch stehen, ein hoffentlich angemessener Bürostuhl, nicht nur ein Hocker oder Küchenstuhl. Das wäre eine klare Abgrenzung gegenüber Familienangehörigen, um zu signalisieren: Stopp, hier ist der Arbeitsbereich. Hier möchte ich nicht gestört werden. Und ich möchte auch nicht, während ich arbeite, noch nebenher die Hausaufgaben der Kinder betreuen.
 

Bewirkt der Trend hin zum Homeoffice, dass Arbeitgeber sich aus der Verantwortung zum Gesundheitsschutz herausziehen?

Nein, das sehe ich nicht. Mittlerweile haben viele Arbeitgeber verstanden, dass es sich negativ auswirkt, wenn sie sich nicht um ihre Beschäftigten bemühen. In Zeiten von Fachkräftemangel sind die meisten sehr bemüht zu schauen, dass man die Arbeitskräfte, vor allem auch die guten Arbeitskräfte, hält. Wenn es Probleme mit dem  Arbeitsplatz gibt, etwa in der Ausstattung, ist es meistens so, dass der Arbeitgeber gewillt ist, zu helfen. Auch sonst ist mein Eindruck, dass Gesundheitsförderung immer mehr zum Thema wird. Zum einen haben viele Arbeitgeber erkannt, dass Gesundheitsförderung ein Zeichen der Wertschätzung für die Mitarbeitenden ist, andererseits dient sie auch wirklich der Gesunderhaltung. Je weniger Krankheitstage es in meinem Unternehmen gibt und je zufriedener meine Mitarbeitenden sind, desto höher ist auch die Produktivität. Unsere Aufgabe als Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner ist es, den Fokus auf die Gesundheit der Beschäftigten zu lenken. Dabei geht es sowohl um die persönliche Gesundheit als auch um die gesellschaftliche Gesundheit.
 

Welche Verantwortung für ihre Gesundheit kommt Arbeitnehmenden zu, die in hybriden Strukturen arbeiten?

Zum einen, wie gesagt, die Abgrenzung zwischen Arbeitsplatz und Lebensraum. Zum anderen eine klare Planung von Arbeitszeiten und Pausen. Oft wird beobachtet, dass im Homeoffice oder beim mobilen Arbeiten länger gearbeitet wird als im Betrieb. Es ist okay, wenn ich mir am Nachmittag vier Stunden Zeit für Kinderbetreuung oder für Hobbys nehme und mich dafür abends noch mal hinsetze. Aber wenn ich das tue, sollte ich für mich selbst klare zeitliche Grenzen setzen und diese auch kommunizieren. Keinesfalls sollte ich, weil der Computer dasteht, in meiner Freizeit immer wieder zwischendurch E-Mails checken. Genauso wichtig: Pausen einlegen! Wer im sonstigen Arbeitsumfeld mit den Kollegen Mittagessen geht, sollte das auch zu Hause für sich einplanen. Und dann auch den Arbeitsplatz verlassen, auf den Balkon, die Terrasse oder vor die Tür gehen. Und: Erreichbarkeiten einschränken. Es ist nicht sinnvoll, 24/7 erreichbar zu sein, nur weil man eben vielleicht im gleichen Zimmer sein Bett stehen hat. Außerhalb der Arbeitszeiten lege ich das Diensttelefon weg und schalte die Chat- und E-Mail-Erreichbarkeit aus.

Illustrationen: Malcolm Fisher
Illustrationen: Malcolm Fisher
Illustrationen: Malcolm Fisher
Illustrationen: Malcolm Fisher
Illustrationen: Malcolm Fisher
Illustrationen: Malcolm Fisher

Was droht andernfalls?

Permanente Erreichbarkeit verursacht Stress. Man ist immer in diesem Gefühl gefangen: Verpasse ich etwas? Muss ich jetzt nochmal nachschauen? Ist da ein Thema, das ich jetzt nochmal bearbeiten muss? Oder will ich, vielleicht auch aus persönlichen Gründen, beweisen, dass ich motiviert und immer erreichbar bin? Ständige Erreichbarkeit kann in Überforderung münden und dazu führen, dass man nicht mehr abschalten kann. Irgendwann entsteht eine chronische Stresssituation. Und die wiederum kann körperliche Beschwerden verursachen. Der Teufelskreis beginnt oft damit, dass man sich überlastet fühlt, Pausen vernachlässigt und sich immer tiefer in die Arbeit vergräbt. In der Folge können körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen entstehen – und im schlimmsten Fall kann das zu psychischen Erkrankungen führen.

Woran kann ich erkennen, dass ich zu viel Stress habe? Das ist selbstverständlich sehr individuell. Ein Zeichen von zu hoher Stressbelastung kann sein, dass ich nachts nicht gut schlafe, dass ich aufwache, an die Arbeit denke und aus meinem Gedankenkreisen nicht rauskomme. Wenn ich merke, dass ich nach vier oder fünf Stunden konzentrierter Bildschirmarbeit ohne Bewegung erste Verspannungen spüre, ist das ein Warnsignal. Rückenschmerzen können nicht nur körperlich, sondern auch Ausdruck psychischer Überlastung sein. Eine dauerhafte Anspannung der Rücken- und Nackenmuskulatur kann sich zunehmend als körperliches Symptom einer inneren Stressbelastung zeigen. 
 

»Ständige Erreichbarkeit kann in Überforderung münden und dazu führen, dass man nicht mehr abschalten kann.«
 

Auch andere Anzeichen wie Reizbarkeit, innere Unruhe, häufige Kopfschmerzen oder eine abnehmende Fähigkeit, mich auf andere Menschen einzulassen, deuten darauf hin, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dann lohnt es sich, ehrlich zu reflektieren, ob die Arbeitsbelastung oder die Summe aus beruflichen und privaten Anforderungen aktuell zu hoch ist.
 

Welchen Stellenwert haben Isolation und Vereinsamung im Homeoffice?

Die wenigsten Unternehmen setzen mittlerweile auf reine Homeoffice-Tätigkeit. Bei den meisten Menschen ist es so, dass sie ein bis zwei Tage pro Woche im Unternehmen arbeiten. In solchen hybriden Modellen beobachten wir nur selten Anzeichen von Vereinsamung, anders als zur Zeit der Corona-Pandemie. Allerdings muss man sagen: Verlässliche Erhebungen zu diesem Thema sind bislang rar. Was wir jedoch wissen, ist, dass die Bindung ans Unternehmen im reinen Homeoffice deutlich abnimmt. Wer wenig Kontakt zum Team hat, ist auch eher bereit, es zu verlassen.

Gerade deshalb gelten hybride Arbeitsmodelle als besonders beliebt: Sie bieten Flexibilität und ermöglichen gleichzeitig regelmäßigen persönlichen Austausch, in Meetings, bei der gemeinsamen Zielplanung oder bei der Kaffeepause. So entsteht ein Teamgefühl. Natürlich gibt es Unterschiede: Für manche Menschen sind schon drei Tage Homeoffice zu viel, da sie den direkten Kontakt, das spontane Gespräch auf dem Flur brauchen. Andere hingegen fühlen sich wohl, wenn sie das Team alle zwei Wochen sehen, das genügt ihnen für ein Gefühl der Zugehörigkeit.
 

Welche Art von gesundheitlicher Prävention würden Sie für Mitarbeitende im Homeoffice empfehlen?

Personen, die eine Bildschirmtätigkeit ausüben, haben nach arbeitsmedizinischer Vorsorgeverordnung den Anspruch alle drei Jahre zu einer Bildschirmarbeitsplatzvorsorge beim Betriebsarzt oder der Betriebsärztin eingeladen zu werden. Dabei geht es um Beratung zu Ergonomie und Arbeitsorganisation und Testung des individuellen Sehvermögens mittels Sehtests.

Gesundheit beginnt im Kopf, deswegen sind Beratung und Aufklärung essenziell. Es ist wichtig, immer wieder zu vermitteln, warum es sinnvoll ist, mindestens einmal pro Stunde vom Schreibtisch aufzustehen und sich zu bewegen, um die Muskulatur zu aktivieren und zu nutzen. Dafür ist sie schließlich da. Ich halte gezielte Beratung zu Rückentraining und alltagsnahen Bewegungsimpulsen für sehr hilfreich, ebenso wie Aufklärung rund um Ernährungsthemen. Im Homeoffice ist der Kühlschrank in greifbarer Nähe, und viele Menschen essen anders als im Büro, wo durch gemeinsame Pausen oft eine gewisse Struktur vorgegeben ist. Auch klassische Maßnahmen im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements bleiben wichtig: Gesundheitstage in Präsenz werden meist sehr gut angenommen.
 

»Gesundheit beginnt im Kopf, deswegen sind Beratung und Aufklärung essenziell.«
 

Sie bieten eine wertvolle Gelegenheit, unterschiedliche Themen aufzugreifen: nicht nur Bewegung und Ernährung im Homeoffice, sondern auch Selbst- und Stressmanagement sowie allgemeine gesundheitliche Aspekte.
 

Wie kann denn gewährleistet werden, dass ergonomische und gesundheitsfördernde Maßnahmen auch tatsächlich genutzt werden?

Es handelt sich immer um ein Angebot und keinen Zwang, somit kann man die Nutzung nicht gewährleisten. Manche Logistikzentren machen morgens gemeinsames Stretching bei Schichtbeginn. Das ist sinnvoll, macht Spaß und ruft ein Gemeinschaftsgefühl hervor. Aber das würde vielleicht für einen anderen Betrieb nicht passen. Die Gefährdungsbeurteilung bildet die zentrale Grundlage unserer Tätigkeit als Arbeitsmediziner und -innen. Jedes Unternehmen ist gesetzlich verpflichtet, eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, einschließlich der Beurteilung psychischer Belastungen. Unsere Aufgabe ist es, die arbeitsplatzbezogenen Gefährdungen zu identifizieren und geeignete Maßnahmen zur Prävention und Minimierung dieser Risiken zu entwickeln. Stellen wir beispielsweise eine Überlastungssituation fest, ist es notwendig, gezielte Angebote zu schaffen, etwa zur Aufklärung oder Stressbewältigung. Entscheidend ist, gesundheitsfördernde Maßnahmen in enger Abstimmung mit den Mitarbeitenden zu entwickeln, um Akzeptanz und Nutzung der Maßnahmen sicherzustellen.
 

Sehen Sie Unterschiede zwischen Männern und Frauen, was gesundheitlichen Arbeitsschutz oder Prävention angeht?

Natürlich. Frauen sind, was Prävention angeht, definitiv deutlich aktiver als Männer. Das beginnt schon beim Hausarzt, wo häufig noch die Ehefrau mit dem Ehemann kommt und sagt, der muss mal durchgecheckt werden. Auch sonst kümmern sich Frauen mehr um Gesundheit, auch um die familiäre Gesundheit. Wir sehen in unseren Beratungen beim Thema psychischer Gesundheit, dass Frauen deutlich häufiger auf uns zukommen als Männer. Inzwischen ändert sich das ein wenig. Immer mehr Männer verstehen, dass das Thema relevant ist, dass es kein Problem ist, sich damit an Betriebsärztinnen und Betriebsärzte, an Arbeitskolleginnen und Psychologen zu wenden. Aber, ganz klar, Frauen sind da offener als Männer. 
 

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