Das Hausdach ist fertig gedeckt, jetzt packt eine etwas angejahrte Handwerkertruppe Werkzeug und Material auf den Hänger. Der Dachdecker aus dem mecklenburgischen Güstrow steht anschließend zur Abnahme unter dem Gebälk und gibt Tipps gegen Schädlingsbefall in der Holzkonstruktion. Man kommt ins Plaudern – und zum Schluss sagt er: „Und wenn Sie jemanden kennen, der Dachdecker werden will – nur her damit. Ich suche schon seit Jahren neue Leute.“
Damit steht der Dachdecker nicht allein. Im Gegenteil. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) rechnet vor: 250.000 Fachkräfte fehlen, durchschnittlich 20.000 Ausbildungsplätze sind unbesetzt – und rund 125.000 Betriebe suchen in den kommenden fünf Jahren eine Nachfolge. Der Fachkräftemangel ist nicht nur im Handwerk, sondern in allen Wirtschaftsbereichen virulent. 2022 konnten mehr als 630.000 offene Stellen für Fachkräfte in Deutschland nicht besetzt werden, weil es keine Arbeitssuchenden mit der erforderlichen Qualifikation gab, so das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „Alle großen Wirtschaftsbereiche sind betroffen, große Unternehmen etwas häufiger als KMU. Besonders ausgeprägt ist die Fachkräfteknappheit demografisch bedingt in den östlichen Bundesländern“, hält das KfW-ifo-Fachkräftebarometer im Juni 2023 fest. Und es wird noch schlimmer: Bis 2035 könnte der Arbeitsmarkt um bis zu sieben Millionen Arbeitskräfte schrumpfen, wenn nicht gehandelt werde, so das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Ende 2022.
URSACHEN FÜR DEN MANGEL
Die Ursachen für diesen dramatischen Wandel sind längst bekannt. Da ist zum einen die Demografie: Die Bevölkerung altert und die Zahl der jungen Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, ist rückläufig. Prognosen zeigen, dass sie weiter kräftig sinken wird – um gut zehn Prozent bis zum Jahr 2040. Zum anderen gibt es längst einen Mismatch zwischen Angebot und Nachfrage – zwischen den verfügbaren Qualifikationen der Arbeitnehmer und den Anforderungen der Unternehmen. Eine große Rolle spielt dabei die zunehmende Digitalisierung, weil viele Berufe in fast allen Wirtschaftsbereichen nach und nach an Bedeutung verlieren. Gleichzeitig entstehen neue Verantwortungsbereiche, die ein viel komplexeres Fachwissen voraussetzen.
Und schließlich ist das Bildungssystem und die Ausbildung in Deutschland zu starr, um den sich ändernden Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden. Eine bessere Abstimmung zwischen Bildungseinrichtungen und Unternehmen ist notwendig, um sicherzustellen, dass Absolventen die Fähigkeiten und Qualifikationen besitzen, die von den Arbeitgebern benötigt werden.
Zwar hat sich die Konjunktur abgekühlt – und weniger Aufträge bedeutet weniger benötigtes Fachpersonal. Doch Dr. Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW, dämpft Erwartungen, dass dadurch weniger qualifizierte Mitarbeitende gesucht werden: „Auch wenn sich der Anteil der Unternehmen, die ihre Geschäftstätigkeit durch Fachkräftemangel behindert sehen, durch die Konjunkturabschwächung verringert hat, bleibt es dabei: Die Fachkräfteknappheit hemmt absolut und im historischen Vergleich immer noch einen großen Teil der Wirtschaft in Deutschland.“ Und wenn sich die Konjunktur im Laufe des Jahres allmählich erholen sollte, dann nehme auch die Fachkräfteknappheit wieder zu.
EINWANDERUNG ALS LÖSUNG?
Eine Maßnahme gegen den eklatanten Mangel ist die Einwanderung. Bis zu 400.000 Menschen sollten jedes Jahr nach Deutschland kommen, um die Wirtschaft und das Sozialsystem am Laufen zu halten, rechnen Fachleute vor. Allerdings ist das längst nicht so einfach, wie sich das anhört. Die bürokratischen Hürden sind hoch und die fachliche Anerkennung für einen der rund 600 deutschen Berufe ist kompliziert. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das der Bundestag vor einigen Wochen verabschiedet hat, könnte es einfacher werden: Es „enthält zahlreiche gute Ansätze, um Hürden aus dem Weg zu räumen und den Zuzug von ausländischen Fachkräften, die im Handwerk so dringend benötigt werden, nach Deutschland zu erleichtern“, räumt ZDH-Präsident Jörg Dittrich ein.
Doch mittlerweile ist der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften so groß, dass staatliche Kernaufgaben zur Disposition stehen. Im öffentlichen Sektor in Deutschland arbeiten derzeit mehr als fünf Millionen Menschen. Doch Fachkräfte in der Verwaltung und bei kommunalen Unternehmen fehlen. Die Lücke könnte bis 2030 auf mindestens eine Million Fachkräfte anwachsen, so die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC. „Es geht um nicht weniger als die Frage, ob der öffentliche Sektor seine Kernaufgaben in Zukunft noch erfüllen kann“, mahnt PwC-Berater und Ex-Staatssekretär Volker Halsch.
Vor allem in sozialen Bereichen wie Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung fehlen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
ANGESPANNTE SITUATION IN DEN KITAS
Wie akut die Situation schon jetzt ist, zeigt sich am Beispiel der Kitas: Einrichtungen schließen, Öffnungszeiten werden kürzer und Gruppen zusammengelegt. „Die Kitas können Personalengpässe nicht mehr ausgleichen“, sagt Tim Arndt-Sinner, Landesvorsitzender des Deutschen Kitaverbandes in Niedersachsen. Laut Verdi fehlen in jedem Kita-Team durchschnittlich drei Vollzeitangestellte – auf ganz Deutschland mit seinen 57.600 Kitas umgerechnet entspricht das knapp 173.000 Fachkräften.
Abhilfe ist nicht in Sicht. Drei bis fünf Jahre brauchen Pädagogen für die Ausbildung. Doch das Manko ist viel größer: Wer sich für eine Ausbildung als Kindergärtner, -pfleger oder Sozialassistent entscheidet, zahlt meist drauf. Denn in der schulischen Ausbildung verdienen die Auszubildenden kein Geld, sondern müssen oft Schulgebühren zahlen. Sogar die Berufsausbildungsbeihilfe kann sie nicht unterstützen. Denn das so genannte BAfÖG für Auszubildende wird für eine schulische Ausbildung nicht gewährt. Die Auszubildenden sind auf sich selbst gestellt. Da muss man seinen Beruf schon sehr lieben … oder wandert gleich in eine andere Branche ab. Gesucht wird ja überall.