Brauchen wir eine staatliche Ausbildungsgarantie?

Zwei Millionen Arbeitskräfte fehlen in Deutschland, gut ausgebildete sind absolute Mangelware. Was tun die Betriebe? Was erwarten sie von der Politik und der Arbeitsagentur?

Illustratorin: Josephine Warfelmann
Illustratorin: Josephine Warfelmann
Dr. Klaus Heimann Redaktion

Das Thema Arbeitskräftemangel brennt den Unternehmen unter den Nägeln: Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) geht davon aus, dass in Deutschland fast aktuell zwei Millionen Arbeitsplätze für längere Zeit vakant bleiben. „Das entspricht einem Wertschöpfungsverlust von fast 100 Milliarden Euro“, rechnet der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer, Achim Dercks, vor. Den 79 Kammern ist klar, dass es aber nicht die eine Lösung gibt.
 
Laut jüngstem Fachkräfte-Report, für den sie 22.000 Mitgliedsunternehmen Ende des Jahres 2022 befragten, klagen etwas mehr als Hälfte über Personalengpässe. Das hat natürlich Auswirkungen für die Projekte zur Klimawende: für klimagerechte Sanierungsprojekte, die Installation von Windkraftanlagen, bei energetischen Sanierungsprojekten sowie bei Erhalt und Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur. Wer eine Photovoltaik-Anlage auf das Dach montiert haben will, muss sich auf lange Wartezeiten einstellen: Dachdecker und Installateure ächzen unter der Auftragslast.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat die Branchen identifiziert, in denen es besonders ruckelt: in der Pflege, in technischen Berufen, im Handwerk, in medizinischen Berufen und in MINT-Berufen (Mathematik-, Ingenieurs-, Naturwissenschaften und Technik). Ein wesentlicher Treiber für den Fachkräftemangel ist der demographische Wandel, der gut prognostiziert, jetzt spürbar die Betriebe trifft.

Unternehmen stellen sich neu auf

Die Stiftung Familienunternehmen hat das ifo-Institut in München gebeten, bei 1.742 Betrieben nachzuforschen, welche politischen und betrieblichen Maßnahmen sie als erfolgversprechend bewerten, um dem Mangel zu begegnen. Die Strategien der Unternehmen zielen im Kern auf die Recruitment-Prozesse ab, auf die Qualifizierung der Mitarbeitenden sowie die Schaffung eines attraktiven Arbeitsumfelds. Mit teurer Leih- oder Zeitarbeit versuchen die Betriebe den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zu überbrücken.

Ein Punkt, in dem Betriebe sich besonders stark engagieren, ist die eigene Ausbildung sowie die Fort- und Weiterbildung. Ebenso haben sie die Umschulung von Quereinsteigern auf ihrer Agenda. Viele locken mit höheren Gehältern. Einige experimentieren mit „New Work“, um sich als attraktiver und moderner Arbeitgeber zu präsentieren. Konkret nutzen sie flexible Arbeitszeiten, hybrides Arbeiten, gezielte Steuerung der Arbeitsbelastung oder individuelle Entwicklungsprogramme.  Das ARD-Morgenmagazin berichtet von der Baufirma Kögel aus Bad Oeynhausen, die ein „Kopfgeld“ von 2.000 Euro an Mitarbeiter auslobt, wenn sie neue Arbeitskräfte beschaffen.  

Von der Politik erwarten die Betriebe ebenfalls mehr Engagement. Ihnen geht es um mehr Berufsorientierung an den Schulen, eine erleichterte Zuwanderung und den vermehrten Einsatz von Ausbildungsbotschaftern. Es geht aber auch um das vorhandene Fachkräftepotenzial. Konkret heißt das: mehr Anreize für eine längere und höhere Beschäftigung.

Frauen länger beschäftigen

Andrea Nahles, Präsidentin der Bundesagentur für Arbeit, spielt den Ball an die Betriebe zurück. Beim Munich Economic Debates, einer Veranstaltungsreihe des Ifo-Instituts und der Süddeutschen Zeitung, verwies sie darauf, dass etwa 10 Prozent der teilzeitbeschäftigten Frauen, die derzeit 20 Stunden pro Woche berufstätig sind, gerne länger arbeiten möchten. Im Durchschnitt gehe es um zwölf Wochenstunden – also eine relevante Größe. Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber könnten etwas tun: einerseits die Frauen aus ihrer ungewollten „Teilzeitfalle“ befreien und andererseits flexiblere Arbeitszeiten anbieten. Nahles berichtete von einer Pflegerin in Sachsen-Anhalt, die ihren neuen Job nicht antreten konnte, weil die Schicht unverrückbar um sechs Uhr begann. So früh zu starten war ihr nicht möglich, da sie um diese Uhrzeit sie ihr Kind in der Kita nicht unterbringen konnte. Die Alleinerziehende habe jetzt bei einer Zeitarbeitsfirma angefangen, weil dort ein späterer Arbeitsbeginn möglich ist. Nahles appellierte an die Unternehmen, flexiblere Arbeitszeiten zu ermöglichen.

Bildungszeit – wie in Österreich?

Um die Betriebe in ihrer Qualifizierungsarbeit zu unterstützen, plant Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Weiterbildung in Deutschland voranzubringen. „Mit einem neuen Weiterbildungsgesetz schaffen wir zusätzliche Chancen“, sagte der Minister der Deutschen Presse-Agentur. So soll nach österreichischem Vorbild eine Bildungszeit in Deutschland möglich sein. „Wenn Beschäftigte und Arbeitgeber sich auf eine Weiterbildung verständigt haben, kann man sich ein Jahr beruflich weiterbilden lassen.“ Zuschüsse der Bundesagentur für Arbeit sollen dabei den Unterhalt sicherstellen, und zwar auf Höhe des Arbeitslosengeldes, also 60 Prozent für Alleinstehende, 67 Prozent mit Kind. Die Arbeitgeber, gerade im Mittelstand, sehen den Plan allerdings eher skeptisch.

Außerdem rächen sich jetzt Fehler beim Umgang mit Zukunftschancen von Schulabsolventinnen und -absolventen. 1,3 Millionen von ihnen, die jetzt zwischen 20 und 30 sind, blieben ohne berufliche Erstausbildung. Dieser Strom von Unqualifizierten versiegt auch nicht: Derzeit verlassen rund 47.000 Schülerinnen und Schüler Jahr für Jahr die Schule ohne Abschluss. Claudia Burkhard, Bildungsexpertin der Bertelsmann Stiftung, spricht sogar von jährlich rund 100.000 jungen Menschen, die das Risiko haben, langfristig ohne Berufsabschluss zu bleiben. „Nicht zuletzt angesichts des herrschenden Fachkräftemangels müssen wir alles daransetzen, Jugendlichen den direkten Einstieg in Ausbildung oder Studium, also den sicheren Übergang zu ermöglichen", so Burkhard. Die Bertelsmann-Stiftung plädiert deshalb seit längerem für eine staatliche Ausbildungsgarantie, die allen ausbildungswilligen Jugendlichen ein Bildungsangebot macht.

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