James Brown hat sie schon 1966 besungen, die Man’s Man’s Man’s World – eine Welt, von Männern für Männer geschaffen. Und obgleich das Fazit des Songs lautet, dass ebenjene Männerwelt ohne Frauen darin nichts wert sei, straft die Gegenwart diese Behauptung Lügen. Auch 2024, fast 60 Jahre nach Browns Song, leben wir noch immer in einer Gesellschaft, in der der Mann der default mode, also die Werkseinstellung ist.
Androzentrismus nennt sich diese Sichtweise, die den Mann ins Zentrum rückt und ihn zur geschlechtsneutralen Norm erklärt. So wird Mann in unseren Köpfen gleichgesetzt mit Mensch. Infolgedessen werden die Bedürfnisse aller Menschen, die dieser Norm nicht entsprechen, vernachlässigt. Das betrifft Kinder ebenso wie Menschen mit Behinderung und natürlich Frauen – dieser gefährlichen Diskrepanz wollen wir uns in diesem Artikel widmen. Der allgemeine Androzentrismus wirkt sich sowohl soziokulturell als auch in konkreten Bereichen aus: Humanmedizin, Städteplanung, Alltagswohlbefinden oder die Sicherheit im Straßenverkehr sind nur einige Gebiete, in denen Frauen-(Körper) nicht ausreichend berücksichtigt werden.
WEDER GLEICH NOCH GLEICHBERECHTIGT
Einer der Hauptgründe für diese Forschungsund Erkenntnislücken? Die sogenannten MINT-Berufe sind noch immer ein Männer-Metier. Das Akronym MINT fasst die Fachbereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zusammen. Sie bilden einen wirtschaftlichen und innovationstreibenden Sektor, der noch immer zu wenig weibliche Repräsentation findet. Ein Missstand, der es in den dritten Gleichsstellungsbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geschafft hat. In jeder Legislaturperiode erfasst der Bericht eine Momentaufnahme, in der Gleichstellung von Frau und Mann in Deutschland betrachtet wird. Das Problem, salopp formuliert, ist die Tatsache, dass in den Köpfen noch immer das Bild der fleißigen Hausfrau existiert, deren Zahlenverständnis über das Abwiegen von Backzutaten nicht hinausreicht. Zwar ist der Frauenanteil unter den Erststudierenden in Deutschland im 1. Fachsemester im MINT-Bereich leicht gestiegen und lag im Jahr 2022 bei rund 35 Prozent, dennoch ist der Anteil von Frauen in diesen Berufsfeldern noch immer zu gering, um eine ausreichende weibliche Repräsentation in der konkreten Forschung, Entwicklung und Innovationen zu gewährleisten.
Die Folgen reichen von geminderter Lebensqualität bis hin zu konkreter Lebensgefahr für Frauen in unserer Gesellschaft. Erst vergangenes Jahr etwa stellte das Schwedische Forschungsinstitut für Straßen- und Verkehrswesen den ersten weiblichen Crashtest-Dummy vor. Was dank unseres internalisierten Androzentrismus für viele sicherlich erst mal befremdlich klingt, rettet sprichwörtlich Leben. Denn Frauen- und Männerkörper unterscheiden sich eklatant. So befasste sich eine britische Studie im Jahre 2022 erstmals mit der nach Geschlechtern aufgeschlüsselten Analyse der Verletzungsmuster im Straßenverkehr. Das Ergebnis: Frauen werden im Straßenverkehr schwerer verletzt als Männer. Airbags und die Position des Lenkrads oder Gurts sind auf den männlichen Körper und seine speziellen Eigenschaften wie Körperschwerpunkt, Bindegewebe oder Muskelmasse ausgerichtet.
Auch in der Medizin wurden Frauenkörper über Jahrzehnte nicht ausreichend erforscht. Bei der Wirkstoffdosierung in Tabletten oder den Symptombeschreibungen für einen Herzinfarkt wird der Mann als Grundlage herbeigezogen. Speziell Frauenkörper betreffende Krankheiten und Lebensphasen, wie Endrometriose oder die Menopause, rücken erst seit kürzerer Zeit in den Fokus der Forschung. Auch die Geburtshilfe unterliegt einem in großen Teilen patriarchal geprägten Gesundheitssystem, das das Gebären von Kindern pathologisiert und nicht individuell betrachtet.
ES GEHT UM MEHR ALS EINE REINE FRAUENQUOTE
Das Fehlen einer weiblichen Perspektive und Expertise in MINT-Fächern äußert sich aber auch in scheinbar unwichtigen Bereichen, etwa in der perfekten Temperatur für Klimaanlagen, der Architektur von öffentlichen Toiletten oder der Höhe des durchschnittlichen Supermarktregals. Grund hierfür ist die Gender Data Gap. Übersetzt bedeutet der Begriff geschlechtsbezogene Datenlücken und beschreibt das teilweise vollständige Fehlen von Daten über Frauen. Der Mann wird auf diese Weise zum Maß aller Dinge – ein Missstand, der durch geschlechtersensible Daten aufgearbeitet werden muss. Um diese Lücke zu schließen, braucht es Frauen in der Forschung. Trotz zahlreicher sowohl privater Initiativen als auch Bemühungen auf Bundes- und Landesebene ist die Zahl der weiblichen MINT-Beschäftigten mit rund 16 Prozent (Stand 3. Quartal 2022) noch immer zu gering. Auch Hochschulen und private Initiativen bemühen sich, den weiblichen Anteil der in MINT-Berufen Arbeitenden zu erhöhen und diese Berufsfelder für Studierende und Fachkräfte auf die Agenda zu holen. Die RWTH Aachen etwa hat sich in einer amtlichen Bekanntmachung dazu verpflichtet, den Anteil von Professorinnen in MINT-Fächergruppen auf 30 Prozent zu erhöhen. Von dieser erhöhten Repräsentation und Sichtbarkeit von Frauen im Bereich der naturwissenschaftlichen Studienfächer verspricht man sich mehr Parität in der Zahl der Studienanfänger:innen. Gleichzeitig dienen sie als Inspiration für Frauen, sich diesem Berufsfeld zuzuwenden. Hier geht es um viel mehr als eine reine Frauenquote. Hier geht es um flächendeckende, innovationstreibende Repräsentanz.
Katharina Wohlrab kennt die fehlende Repräsentation aus ihrer eigenen Studienzeit. Gemeinsam mit vier anderen Frauen studierte sie neben rund 200 Männern von 2018 bis 2021 Informatik an der TU – Technischen Universität Berlin. „Bei Gruppenarbeiten wurde ich immer zugewiesen nach dem Motto: ,Wer hat noch keine Frau?‘“, berichtet Wohlrab. Diese und andere Erfahrungen nahm Wohlrab als Anlass, die Initiative Tech4Girls zu gründen. Bei Tech4Girls lernen Mädchen Programmieren, werden in ihren Interessen und Fähigkeiten gestärkt und erhalten inspirierende Einblicke in die Karrierechancen im MINT-Berufsfeld. „Deutschland hängt in Sachen Frauen in MINT wahnsinnig hinterher - dabei leben in Deutschland sogar mehr Frauen als Männer“, so Wohlrab.
Ein Umdenken und eine Forschung, die Frauen wie Männer in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, ist nicht nur gesellschaftlich wünschenswert, sondern in vielen Bereichen schlicht lebensrettend. Wer weiß, vielleicht wird in einigen Jahren die Women’s World besungen – eine Welt, in der die Frau im Mittelpunkt steht. Es spricht nichts dagegen, schließlich sind Frauen mindestens ebenso geeignet für ein MINT-Studium wie Männer. Übrigens steht die Vermutung im Raum, dass die Lyrics von Browns Welthit Man’s Man’s Man’s World von seiner damaligen Lebensgefährtin Betty Jean Newsome geschrieben wurden. Was der Soulsänger aber Zeit seines Lebens bestritt.