Herr Dr. Gaycken, Industrie 4.0 ist ein Buzzword, das uns seit Jahren begleitet. Wie viel Leben steckt da tatsächlich drin?
So wirklich tief vorgedrungen ist die Industrie 4.0 in all den Jahren nicht. Es gibt Unternehmen, die damit experimentieren, auch jede Menge Angebote – teilweise in Kombination mit anderen Technologien, aber viele der Equipmenthersteller haben die Industrie 4.0 nicht wirklich integriert, weshalb das Thema eher peripher mitschwimmt. Von einer Durchdringung innerhalb der Industrie oder sogar bis in den Mittelstand hinein kann man daher aus meiner Sicht nicht sprechen.
Welche Gründe mögen für die Zurückhaltung der Industrie verantwortlich sein?
Da gibt es gleich eine Reihe von Gründen – hohe Kosten oder auch die relativ schnelle Umstellung der Prozesse, die mit der Industrie 4.0 verbunden wäre, seien hier stellvertretend genannt. Aus meiner Sicht hängt die Zurückhaltung jedoch vor allem mit der Security zusammen.
Mit Security meinen Sie die Sorge, sich mit der Digitalisierung von Prozessen und der damit verbundenen Öffnung angreifbar zu machen?
Ganz genau. Gerade in der Industrie haben die Angriffe mit Ransomeware zugenommen und das hat die Branche nachhaltig und nachdrücklich geprägt. Und auch wenn nicht jedes Unternehmen bereits einer Cyberattacke zum Opfer gefallen ist, findet doch untereinander ein Austausch statt, sodass das Risiko, solche Angriffe in der Produktion zu haben, einfach viel zu hoch und damit zu teuer ist.
Das ist nachvollziehbar. Wird es auf der anderen Seite nicht aber auch „zu teuer“, nicht zu digitalisieren, weil damit Wettbewerbsvorteile entfallen?
Mit jeder Vernetzung machen sich Unternehmen offen und verwundbar für Angreifer, weshalb sich viele Unternehmen dazu entschieden haben, es eben nicht zu tun. Das ist eine strategische Entscheidung. Vom Mythos, den Anschluss zu verlieren, wenn man dies und das und jenes nicht macht, halte ich nicht viel, weil einfach jedes Jahr eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Es gibt sicherlich Fälle, wo Digitalisierung sinnvoll ist, in vielen anderen Fällen aber nicht. Und die Sicherheitsbedenken sind groß – zu Recht, denn wir können ihnen noch immer kaum etwas entgegenbringen. Sicherheitstechnologie gibt es jetzt schon seit 40 Jahren und wir haben dennoch jede Woche Hunderte Hacks.
Welche strategischen Fragen sollten sich Unternehmen Ihrer Meinung dann stellen, um wettbewerbsfähig und innovativ zu bleiben?
Automatisiert ist die Produktion ja bereits, arbeitet an vielen Stellen also hocheffizient. Die Frage ist demnach, wie viel Digitalisierung möchte oder brauche ich in meiner Produktion. Bei der Industrie 4.0 geht es ja vor allem um Losgrößen und eine Individualisierung der Automatisierung. Digitalisierung muss in dem Kontext also vor allem gewinnbringend sein, einen Value für die Kunden haben – und die Risiken müssen sorgfältig abgewogen werden.
Ist die Cloud eine Lösung, die die aktuellen Sicherheitsbedenken rund um die Industrie 4.0 schmälern könnte?
Es ist ein Weg, den einige Unternehmen gehen, wobei die großen Unternehmen, in die ich Einblicke habe, in der Regel auf eine On-premise-Cloud oder hybride Modelle setzen – schlicht, weil die Kontrolle da einfach größer ist.
Sehen Sie denn Tendenzen oder Impulse, beispielsweise aus Forschung und Wissenschaft – die die Sicherheitsproblematik in naher Zukunft entschärfen?
Leider nein, es ist ein Thema, das uns wohl erhalten bleiben wird.
Und dennoch wird die Digitalisierung in allen Bereichen konsequent vorangetrieben …
Mit entsprechenden Antworten in Form von Angriffen, richtig, weshalb die Zurückhaltung, die wir aktuell aus dem produzierenden Gewerbe wahrnehmen, auch in anderen Bereichen zunimmt.
Haben nicht aber die Daten, die in einer vernetzten Produktion generiert und ausgewertet werden, einen Mehrwert, der dem Sicherheitsrisiko gegenübersteht?
Daten haben natürlich einen Wert. Davon haben Unternehmen nur auch ohne Digitalisierung eine Menge, die sie gewinnen und anhand derer sie optimieren können, beispielsweise die Steuerungs- oder Nachfragedaten. Damit lässt sich bereits gut arbeiten, weshalb Unternehmen aus meiner Sicht auch hier zögerlich sind, direkte digitale Steuerungs- und Kontrollfunktionen mit reinzubringen. Ein Beispiel hierfür sind auch die Smart Meter, deren Rollout groß angekündigt wurde, der aber nie in dem Ausmaß erfolgt ist – aus Sicherheitsgründen. Hier muss man klar sagen, dass viele Visionen in den vergangenen Jahren wieder geplatzt sind.
Daten, die beispielsweise die Sensorik liefert, haben doch aber sicherlich einen Mehrwert gegenüber Steuerungs- oder Nachfragedaten?
Ja, und innerhalb eines geschlossenen Ökosystems funktionieren Sensorik und die so gewonnenen Daten auch sehr gut. Es ist die Vernetzung, mit der die Sicherheitsrisiken Einzug halten, und hier kann niemand belegen, dass ein möglicher Mehrwert die Risiken übersteigt.
Klingt, als wäre die Industrie 4.0 eine Vision, von der man sich verabschieden sollte …
Zumindest sehe ich nicht, wohin sie sich entwickeln könnte. Denn in den letzten Jahren ist tatsächlich wenig passiert. Es wird versucht, hier und da etwas zu bauen und zu verkaufen, allerdings auch mit einer großen Zögerlichkeit, weil viele Dinge nicht wirklich validiert und konkretisiert werden können. Aus meiner Sicht ist das ganze Vorhaben stecken geblieben – aber das schon vor einer ganzen Weile.
Warum wird dann überall gepredigt, dass deutsche Unternehmen dringend mit Vollgas digitalisieren müssen?
Mir scheint, Ihre Botschaft ist eher: Fuß vom Gas, ganz so dramatisch ist es erstens nicht und zweitens haben wir die Sicherheitsrisiken nicht im Griff, wenn wir alles digitalisieren würden.
Die Frage nach dem Warum kann ich für andere nicht beantworten. Aber in der Tat wäre das meine Aussage. Aus meiner Sicht haben Unternehmen heute andere Themen, mit denen sie sich beschäftigen sollten: Aufklärung, mehr Verständnis von Zusammenhängen, Open Source Intelligence, Künstliche Intelligenz, um mit den richtigen Fragen noch mehr sinnstiftendes aus den vorhandenen Daten ziehen zu können. Neue Technologien und Digitalisierung werden oft in einem Atemzug genannt, sind aber nicht zwingend ein und dasselbe. Außerdem liegt die Wertschöpfung aus meiner Sicht gerade an anderer Stelle. Denn die oben genannten Themen bringen aktuell vor allem strategische Einsichten, mit denen sich beispielsweise auch die Produktion weiter optimieren ließe.
Industrie 4.0 in Zahlen
Statistiken von Statista und Technology Review zeigen: Im vergangenen Jahr nutzten bereits 62 Prozent der deutschen Industrieunternehmen Anwendungen der Industrie 4.0, 21 Prozent hatten welche in Planung. Zum Vergleich: 2018 lag der Anteil der Unternehmen, die die Industrie 4.0 in Planung hatten bei 22 Prozent, der Anteil der Nutzer bei 49 Prozent. Aber auch die Hemmnisse für den Einsatz von Industrie 4.0 bleiben groß: 77 Prozent der Unternehmen gaben an, es fehle an finanziellen Mitteln, 61 Prozent nannten den Datenschutz als Hemmschuh, gefolgt von den Anforderungen an die IT-Sicherheit (57 Prozent) und fehlenden Fachkräften (55 Prozent). An der Komplexität des Themas „scheitern“ 52 Prozent der Befragten.
Die vier Stufen der industriellen Revolution
Alles begann im 18. Jahrhundert, als die ersten mit Dampf und Wasser betriebenen Maschinen die reine Arbeitskraft unterstützten und Aufgaben teilweise ersetzten. Das Zeitalter der Industrialisierung hatte begonnen. Mit der Elektrizität kam dann das Fließband, und aus der Industrialisierung wurde die Industrie 2.0. Gallionsfigur dieses „Evolutionsschritts“: Henry Ford zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Entwicklung der Computer leitete dann in den Siebzigerjahren des 21. Jahrhunderts die 3. Stufe der industriellen Revolution ein. Das große Schlagwort hier: Automatisierung und damit eine hocheffiziente Steuerung der Produktion. Der nächste Schritt: eine konsequente Vernetzung aller Akteure und damit der Startschuss für die Industrie 4.0. Der Begriff wurde vom Arbeitskreis der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, BMBF, 2011 vorgestellt und 2013 auf der Hannover Messe als Handlungsempfehlung Industrie 4.0 der damaligen Bundekanzlerin Angela Merkel übergeben.
Die Bandbreite der Anwendungsfälle ist dabei immens, weshalb es eine einheitliche Definition, die eine Industrie 4.0 nicht gibt. Gemeint ist hier allerdings immer eine bestmögliche (digitale) Vernetzung und Interaktion aller Beteiligten. Das Resultat im Idealfall: eine sich selbst steuernde und selbst optimierende Produktion.