Stundenlang in einer Zwangshaltung über Patienten gebeugt – das ist Alltag derer, die täglich in deutschen OP-Sälen operieren. Eine Arbeit unter großer physischer Belastung. Viele Chirurginnen und Chirurgen können nur unter Schmerzmitteln arbeiten, da sie unter Rückenschmerzen und anderen berufsbedingten Erkrankungen leiden. Anders als herkömmliche OP-Roboter ändert der neue cyber-physische OP-Roboter NOAC das grundlegend: Er spürt die Bewegungen des Operierenden, folgt ihnen in Echtzeit, stabilisiert und fixiert millimetergenau. Entwickelt vom frauengeführten Deep-Tech-Start-up Hellstern medical, macht NOAC die One-Person-Surgery möglich. „Wir lösen zwei der größten Herausforderungen im globalen Gesundheitswesen: den Mangel an Fachkräften und die Ineffizienz chirurgischer Arbeitsabläufe“, erklärt Sabrina Hellstern, Geschäftsführerin von Hellstern medical.
Der NOAC-Roboter ist bereits in einer Reihe Kliniken im Einsatz – etwa an der Charité Berlin, dem LMU Klinikum München und dem Universitätsklinikum Tübingen. Mit seiner internationalen Markteinführung im Jahr 2025 markiert der OP-Roboter eine neue Technologieklasse – ein Paradebeispiel für Deutschlands Rolle als Brutstätte für MedTech-Innovationen.
Die deutsche Medizintechnikbranche investiert im Schnitt 9 Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung – das entspricht rund 3 Milliarden Euro jährlich. 15 Prozent der Beschäftigten sind im Bereich Forschung und Entwicklung tätig – weit über dem Durchschnitt anderer Branchen. Die Innovationskraft zeigt sich auch bei den Patenten: 2023 meldete die Branche 15.985 Patente beim Europäischen Patentamt an. Damit ist die Medizintechnik die zweitinnovativste Branche Europas – gleich hinter der digitalen Kommunikation.
Auch die Pharmaforschung liefert beeindruckende Ergebnisse. In Deutschland werden laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller jedes Jahr zwischen 25 und 45 neue Medikamente mit neuen Wirkstoffen eingeführt. 2024 waren es 43 – darunter personalisierte Krebsmedikamente, Gentherapien und Impfstoffe. Ein Beispiel ist Mirvetuximab-Soravtansin (Elahere): ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat gegen bestimmte Formen von Eierstockkrebs. Es greift Tumorzellen gezielt an und ermöglicht so eine präzisere und schonendere Therapie. „Quantitativ kommen die meisten Arzneimittel-Innovationen aus den USA. Aber qualitativ gibt es immer wieder Spitzeninnovationen aus Deutschland, etwa wenn man in die Bereiche der Herz-Kreislauf-Medizin, der Impfstoffe oder auch der Entwicklung von Krebsmedikamenten schaut. Da gibt es in Deutschland wirklich wegweisende Entwicklungen“, erklärt Rolf Hömke, Pressesprecher des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa).
WELTMARKTFÜHRER AUS DEUTSCHLAND
Viele deutsche MedTech-Unternehmen sind Weltmarktführer in Nischen: Carl Zeiss Meditec aus Jena mit OP-Mikroskopen, Eckert & Ziegler mit Hauptsitz in Berlin bei radioaktiven Komponenten für die Krebstherapie oder B. Braun aus Melsungen bei Infusionstechnik. Diese Hidden Champions tragen dazu bei, dass deutsche Produkte weltweit gefragt sind: Der Auslandsumsatz der MedTech-Branche lag nach Auskunft des Bundesverbands Medizintechnologie BVMed 2024 bei 28,2 Milliarden Euro, die Exportquote bei 68 Prozent.
Neben vielen mittelständischen Weltmarktführern prägen auch Großunternehmen den Standort. Siemens Healthineers ist international führend in der Magnetresonanztomografie (MRT). Mit seinen innovativen MRT-Systemen hat das Unternehmen neue Standards in der Diagnostik gesetzt. Auch durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Bildgebung gilt Siemens als Taktgeber einer Entwicklung, die weltweit die Radiologie verändert. 2023 hat das Unternehmen den Deutschen Zukunftspreis gewonnen, weil es Medizintechnik demokratisiert: MRTs werden zugänglicher, nachhaltiger und vielseitiger – ein Durchbruch, der weltweit Millionen Menschen präzisere Diagnosen ermöglicht.
»Medizintechnologien sind eine Schlüsselindustrie für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland.«
AUSBLICK: POTENZIALE SICHERN
Ob OP-Roboter, personalisierte Krebstherapie oder MRT-Hightech – die Innovationskraft deutscher Forschung steht außer Frage. Aber allein die Stärke der Unternehmen reicht nicht aus, um international dauerhaft ganz vorne mitzuspielen. Im Vergleich zu den USA oder China zeigt sich, dass der Standort Deutschland an einigen Stellen ins Hintertreffen geraten könnte, wenn nicht gegengesteuert wird. Klinische Studien dauern hierzulande oft länger, weil Genehmigungen komplex und die Bürokratie aufwendig ist. Zulassungsverfahren ziehen sich hin, während in den USA neue Medikamente häufig schneller verfügbar sind. Zudem fehlt es bislang an einer modernen Dateninfrastruktur: Elektronische Patientenakten oder Register, die für Forschung und Entwicklung genutzt werden könnten, sind nur eingeschränkt vorhanden. Für junge Firmen – etwa Start-ups mit bahnbrechenden Ideen – erschwert das den Markteintritt.
Genau hier setzt die Forderung der Branche an: Deutschland braucht eine MedTech-Strategie, die ressortübergreifend gedacht ist. Also nicht nur Gesundheitspolitik, sondern auch Wirtschafts-, Forschungs- und Digitalpolitik an einem Tisch. „Medizintechnologien sind unentbehrlich für die Gesundheitsversorgung der Menschen und eine Schlüsselindustrie für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Es ist daher gut, dass die Bundesregierung die Medizintechnik als Leitwirtschaft anerkennt. Nun müssen den Worten Taten folgen – durch eine ressortübergreifende MedTech-Strategie“, fordert Marc-Pierre Möll, Geschäftsführer des Bundesverbands Medizintechnologie (BVMed).