2030 in Sichtweite

Der Weg zur Dekarbonisierung der Wirtschaft ist eingeschlagen. Die erste verpflichtende Stufe wird in fünf Jahren erreicht. Wo stehen wir?

Illustration: Josephine Warfelmann
Illustration: Josephine Warfelmann
Olaf Strohm Redaktion

Bis 2050 wollen die Länder der Europäischen Union klimaneutral sein. Die EU hat dieses Ziel sogar in ein Gesetz gegossen. Die gesamte europäische Wirtschaft, auch die deutsche, darf dann entweder keine Treibhausgase mehr ausstoßen oder sie muss die, die noch ausgestoßen werden, kompensieren. Und der Handlungsdruck steigt: Klimapolitische Proteste nehmen zu, immer mehr Kunden wollen nachhaltig hergestellte Produkte kaufen, Beschäftigte wollen bei nachhaltigen Unternehmen arbeiten. 

Wie die Dekarbonisierung aller Branchen gelingen kann, ist angesichts der nach wie vor stark dominierenden fossilen Energieerzeuger in der Industrie, in Gebäuden und im Straßenverkehr für viele ein Rätsel. Dabei besteht der Weg zur Treibhausgasneutralität, auch „NetZero“ genannt, aus Stufen mit Selbstverpflichtungen. In fünf Jahren, 2030, ist die nächste Stufe erreicht. Das EU-Klimagesetz hat das Emissionsreduktionsziel von ursprünglich 40 Prozent auf jetzt mindestens 55 Prozent erhöht. „Mindestens“ – das bedeutet, dass neben der Vermeidung von Treibhausgas-Emissionen auch bereits emittierte Treibhausgase abgebaut werden sollen. Man könnte dann auf 57 Prozent kommen. 

Um eine unabhängige wissenschaftliche Beratung zu gewährleisten, wurde ein unabhängiges Gremium aus 15 Wissenschaftler:innen ins Leben gerufen. Dieser EU-Klimabeirat hat Anfang des Jahres seine Studie „Towards EU climate neutrality“ veröffentlicht. Darin untersucht er am Beispiel der verschiedenen Sektoren, wie weit die EU auf dem Weg zur Klimaneutralität ist. Fazit: Alle Sektoren, besonders aber Gebäude, Verkehr, Land- und Forstwirtschaft, müssen ihre Anstrengungen erhöhen. Ottmar Edenhofer ist der Vorsitzende des Beirats und zugleich Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Er sagte: „Das Erreichen der Klimaneutralität bis 2050 ist ein Wettlauf mit der Zeit, und wir können es uns nicht leisten, uns jetzt zurückzulehnen.“ 

Dringend seien stabile Investitionsaussichten für erneuerbare Energien und die Überarbeitung der EU-Energiesteuer. Die schädlichen Subventionen für fossile Brennstoffe, die sich EU-weit auf 50 Milliarden Euro pro Jahr belaufen, müssten vollständig abgeschafft werden. Der EU-Klimabeirat empfiehlt außerdem, das EU-Emissionshandelssystem zu reformieren und neue politische Maßnahmen zu verhängen, damit weniger material-, energie- und treibhausgasintensive Produkte nachgefragt würden. Die soziale Frage müsse beachtet werden: Umverteilungsmaßnahmen für am stärksten betroffene Haushalte und auch Unternehmen würden dazu beitragen, dass die öffentliche Unterstützung für Klimaschutzmaßnahmen erhalten bleibe. 

Laut Edenhofer sei der Mangel an Fortschritten in der Land- und Forstwirtschaft „am auffälligsten“. Hier fehle es bislang an politischen Maßnahmen und Anreizen. Da die Emissionen in der Landwirtschaft nicht zurückgingen, sollte sich laut der Expertenkommission die Unterstützung von emissionsintensiven landwirtschaftlichen Praktiken wie der Viehzucht auf emissionsärmere Produkte und Tätigkeiten verlagern. Bis spätestens 2031 müsse eine Form der Emissionsbepreisung im Agrar- und Landnutzungssektor eingeführt werden. 

Der Energiewende-Thinktank Agora hatte vor fünf Jahren ein Szenario für ein klimaneutrales Deutschland vorgelegt, mit Wirtschaftlichkeit, Wahrung der Investitionszyklen und Akzeptanz als Kernkriterien. Das Ergebnis war: Klimaneutralität 2050 und das Zwischenziel von minus 65 Prozent Treibhausgase bis 2030 seien machbar, brauchten aber eine komplett andere Gangart in der Klimapolitik. 

Kernelemente seien eine Energiewirtschaft auf Basis Erneuerbarer Energien, die weitgehende Elektrifizierung, die smarte und effiziente Modernisierung des Gebäudebestands sowie der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft für die Industrie. Ebenso dringlich sei eine deutliche Beschleunigung der Energie-, Verkehrs- und Wärmewende: Dazu gehören bis 2030 der vollständige Kohleausstieg, ein Erneuerbaren-Anteil am Strom von etwa 70 Prozent, 14 Millionen Elektroautos, 6 Millionen Wärmepumpen, eine Erhöhung der Sanierungsrate um mindestens 50 Prozent sowie die Nutzung von gut 60 Terawattstunden sauberen Wasserstoffs. Was den Anteil erneuerbarer Energien am Strommix angeht, ist Deutschland auf einem guten Weg: Im ersten Halbjahr 2024 kamen dem Statistischen Bundesamt zufolge 61,5 Prozent des hierzulande erzeugten Stroms aus Wind-, Solar-, Wasserkraft und Biomasse. Bei der Zahl der elektrischen Fahrzeuge sieht es dann schon nicht mehr ganz so gut aus: Am 1. Juli 2024 waren insgesamt rund 1,52 Millionen E-Fahrzeuge zugelassen. Bis zu einer Zahl von 14 Millionen ist es noch ein weiter Weg. Was die Zahl der Wärmepumpen angeht, stockt der Absatz (siehe auch Seite 18). Rund 1,5 Millionen Anlagen sind derzeit installiert. Der Bundesverband Wärmepumpe hofft zwar, dass es bis 2023 sechs Millionen Wärmepumpen werden – das würde der Agora-Forderungen entsprechen. Doch das setzt voraus, dass auch die energetische Gebäudesanierung – eine Voraussetzung für die effiziente Nutzung der elektrischen Heiztechnologie – stärker in Gang kommt. 
 

»Wir müssen damit beginnen, uns auf noch stärkere Reduktionen nach 2030 vorzubereiten.«EU-KLIMABEIRAT


Hier legte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im vergangenen Jahr enttäuschende Zahlen vor: Nicht nur, dass der Gebäudesektor die politischen Ziele regelmäßig verfehle, in realer Betrachtung zeigten sich nicht einmal Fortschritte. Im Gegenteil: „Die energetischen Investitionen befinden sich seit Jahren auf rapider Talfahrt“, erklärte DIW-Studienautor Martin Gornig. Und nicht zuletzt hinkt die deutsche Politik auch in Sachen Kohleausstieg hinter den Agora-Forderungen hinterher: Laut Kohleausstiegsgesetz soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland nicht 2030, sondern erst im Jahr 2038 stillgelegt werden. 

Schon diese oberflächliche Betrachtung macht deutlich, dass die Dekarbonierungsziele bis 2030 in Gefahr sind. Angesichts des politischen Erstarkens von rechtspopulistischen Parteien wie der AfD, die den menschengemachten Klimawandel leugnet, könnten sie bald noch schwerer durchzusetzen sein. Keine guten Aussichten für die Dekarbonisierung. Dabei mahnte der EU-Klimabeirat an, man müsse bereits jetzt damit beginnen, sich auf noch stärkere Reduktionen nach 2030 vorzubereiten.

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