»Wir müssen uns der Komplexität der Welt stellen«

Illustrationen: Agata Sasiuk
Illustrationen: Agata Sasiuk
Klaus Lüber Redaktion

Wie können Unternehmen angesichts einer komplexen Realität zukunftsfähig bleiben? Dies ist eine Frage, die Top-Managerin Ana-Cristina Grohnert schon seit Langem umtreibt. In ihrem neuen Buch „Das verborgene Kapital. Wie wir Wertschöpfung neu erfinden müssen“ sammelt sie ihre Erfahrung aus 25 Jahren und kommt zum Schluss: Wir brauchen dringend eine neue Führungskultur! Ein erster Schritt, ist sich Grohnert sicher, liegt in der Überwindung alter Muster: weg von kurzfristigem Gewinndenken, von reflexhaftem Personalabbau zur Kostensenkung, von Monokulturen in der Führungsetage.

 

Frau Grohnert, Sie sind seit 25 Jahren im Geschäft, waren als Risikomanagerin für Milliardenprojekte und als Personalchefin für Großunternehmen für tausende Mitarbeiter verantwortlich. Jetzt haben Sie ein Buch über diese Erfahrungen geschrieben, in dem sie unter anderem fordern, das Konzept von Wertschöpfung grundsätzlich neu zu denken. Das klingt erst einmal so, als ob da einige Dinge nicht ganz rund laufen in den Führungsetagen.
Ja, so kann man das sagen. Ich glaube, das Grundproblem vieler Führungskräfte ist nach wie vor, dass sie sich der zunehmenden Komplexität von Entscheidungssituationen nicht stellen. Das würde nämlich bedeuten, möglichst alle Interessen und Herausforderungen zu berücksichtigen. Das macht man am besten, indem man das Problem in seine Einzelteile zerlegt und diese dann im Team so verteilt, dass jeder sich um den Teilaspekt kümmern kann, den er am besten beherrscht. Aber das ist eben auch anstrengend ...

 

... und deshalb geht man den kürzeren, einfacheren Weg?
Ganz genau. Dann versucht man, die Diskussion lediglich aus dem eigenen Blickwinkel heraus zu führen und nach schnellen, einfachen Lösungen zu streben. Ich selbst haben das oft erlebt und es hat mich immer unheimlich genervt. Man reduziert die Komplexität, der man sich eigentlich in ganzem Umfang stellen müsste, auf einfache Lösungen, um schnell zu Ergebnissen zu kommen. Problematisch ist diese Haltung auch deshalb, weil sie meist zu Wissensasymmetrien führt. Man agiert dann nach dem Muster: Ich habe hier einen Wissensvorsprung und den spiele ich zu meinem eigenen Vorteil aus. Man selbst geht als Gewinner hervor, alle anderen sind potenzielle Verlierer.


Sie selbst kamen nie in die Versuchung?
Nein, das hätte ich mir in meinem Bereich auch gar nicht erlauben können. Die ersten 15 Jahre meines Berufslebens war ich als Risikomanagerin für die Finanzierung industrieller Großprojekte verantwortlich. Da müssen Sie zwangsläufig multiperspektivisch herangehen, weil hier so viele Risiken involviert sind – ökonomische, politische, ökologische. Das gelingt nur dann gut, wenn Sie es schaffen, Projekte in ihre Einzelteile zu zerlegen und sie transparent zu machen. Denn erst dann ist es möglich, die wirtschaftlichen Risiken einigermaßen verlässlich zu kalkulieren und einen Weg zu finden, sie auf die richtigen Risikoträger zu verteilen, zu verringern und so den wirtschaftlichen Erfolg abzusichern.

 

Multiperspektivität als Garant für wirtschaftlichen Erfolg – ist es das, was Sie unter neuer Wertschöpfung verstehen?
Ja, das gehört unbedingt dazu. Und es wäre falsch zu denken, bei gemischten Teams und einer von Offenheit, Neugier und Transparenz geprägten Führungskultur würde es lediglich darum gehen, eine Wohlfühlatmosphäre zu generieren. Es geht mir nicht um Feel-good-Programme und oberflächlich gute Laune in den Unternehmen. Ein Unternehmen muss Geld verdienen, damit alle Beschäftigten gut leben können. Dauerhaft kann das meiner Meinung nach aber nur gelingen, wenn davon nicht nur das Unternehmen, sondern die Allgemeinheit profitiert. Unser Profitinteresse muss Hand in Hand gehen mit unserer Bereitschaft zur gesellschaftlichen Verantwortung. Und genau dazu muss man sich der Komplexität der Welt stellen und nicht ständig nach Umwegen und Abkürzungen suchen.


Können Sie uns das vielleicht einmal an einem Beispiel verdeutlichen?
Sehr gerne. Nehmen wir das Thema Homeoffice. Da diskutieren wir ja schon eine gefühlte Ewigkeit darüber, nun stecken wir immer noch mitten in einer Pandemie und plötzlich müssen die Unternehmen schnell reagieren. Die radikalste und schnellste Lösung wäre es vielleicht, zu sagen: Gut, dann arbeiten halt alle von zuhause aus. Ist doch super, dann können wir uns gleich noch die Büromiete sparen. Aber dann haben Sie nur einen Bruchteil der Zukunftsausrichtung verstanden, die in diesem Thema liegt. Wollen Sie das ernsthaft angehen, müssen Sie sich mit soziologischen und psychologischen Fragestellungen auseinandersetzen und auch Aspekte wie Energieoptimierung und Infrastruktur mitdenken. Was passiert zum Beispiel mit dem Bäcker, der sich gegenüber des Firmensitzes niedergelassen hat, weil Ihre Mitarbeiter in der Pause die Brötchen bei ihm kaufen? Das müssen Sie alles mitdenken.

 

Also nach dem Prinzip des Stakeholder-Values, wie dieser ganzheitlichere Ansatz in der Managementtheorie auch genannt wird?
Richtig. Anders als das Prinzip des Shareholder-Values, nach dem ein Unternehmen letztlich lediglich seinen Anteilseignern gegenüber verpflichtet ist, geht es beim Stakeholder-Value um die gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Wirtschaft und Gesellschaft, so die Idee, sind keine zwei getrennten Bereiche, in denen die einen irgendetwas machen und die anderen Geld verdienen. Wirtschaft ist, wozu sich jeder und jede Einzelne jeden Tag entscheidet. Und Unternehmen können nur Geschäfte machen, wenn die Gesellschaft insgesamt im Gleichgewicht ist. Wenn wir das nicht beachten, verschenken wir unglaublich viel Potenzial.

 

Ist dies das „verborgene Kapital“, von dem Sie in Ihrem Buch sprechen?
Ja, das verborgene Kapital ist das, was wir verschenken oder regelrecht vernichten, wenn wir Problemstellungen verkürzen. Das hat auch viel mit einer bestimmten Führungskultur zu tun, wie man sich als Unternehmensführung präsentieren will. Ist es meine Strategie, schnell zu agieren, um eine publikumswirksame Lösung präsentieren zu können? Dann kann ich mich wunderbar als kostenreduzierender Restrukturierer verkaufen und vielen Investoren ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Aber dann vernichte ich auch Kapital an anderer Stelle. Wenn ich dagegen sage, wir müssen etwas verändern und beziehen alle Stakeholder in diesen Prozess mit ein, dann kann ich vielleicht kurzfristig nicht den großen Aufschlag generieren, den die InvestorInnen erwarten. Aber ich halte das Produktivitätskapital, das sich durch motivierte MitarbeiterInnen entfalten kann. Und das zahlt sich langfristig aus.


Eine sehr beliebte Methode zur Kostenreduzierung ist das Outsourcing von Arbeitskraft ...
... und genau das ist für mich ein Beispiel für einen viel zu eindimensionalen Ansatz. Auf dem Papier sieht das erstmal alles gut aus. Ich verlagere meinen Service nach Indien, die Differenz der Arbeitskosten kommt mir zugute. Das wirkt gut, das machen alle – Investoren zufrieden. Aber wenn man das genau durchdenkt, ist es ökonomisch gar nicht mehr so sinnvoll, wie es auf den ersten Blick erscheint. Wenn Sie outsourcen, müssen Sie Mitarbeiter vor Ort schulen, um die Qualität halten zu können. Was machen Sie, wenn neben Ihrem Shared-Service-Center plötzlich ein weiteres entsteht, das höhere Gehälter bezahlt? Dann können Sie wieder von vorne anfangen, Mitarbeiter zu akquirieren und zu trainieren. Ganz abgesehen davon: Sie können Mitarbeiter in Deutschland ja nicht einfach entlassen, sondern mit Sozialplänen dafür Sorge tragen, dass sie wieder in Arbeit kommen. Ein Stellenabbau von 10.000 Menschen klingt vielleicht nach eingesparten Kosten, aber das ist Augenwischerei. Es wäre möglicherweise sinnvoller, diese Menschen weiter im Unternehmen wertschöpfend zu beschäftigen.

 

Wenn wir gerade bei den Beschäftigten sind: Sie plädieren für eine neue Vertrauenskultur in Unternehmen und unterscheiden an dieser Stelle zwischen flachem und tiefem Vertrauen. Was ist damit gemeint?
Unter flachem Vertrauen verstehe ich jene Zweckbeziehung zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten, die sehr bürokratisch und basierend auf einem komplexen Wechselspiel zwischen Kontrollbedürfnis und Erwartungshaltung einen bestimmten Vertrauenslevel aufrechtzuerhalten sucht. Dieses Vertrauen lebt von Voraussetzungen und Vorbedingungen wie Bekanntheit und Verfügbarkeit von Information. Und setzt dabei auch stark auf Stereotype: Du hast diesen Abschluss, Du kommst aus dieser Familie – dann kann ich Dir vertrauen. Tiefes Vertrauen dagegen setzt gerade keine Bekanntheit voraus, sondern lässt sich auf das Unbekannte ein. Dazu gehört, dass wir andere, Fremde, Unbekannte grundsätzlich erst einmal als vertrauenswürdig betrachten und ihnen einen Vertrauensvorschuss geben.

 

Also bedingungsloses Vertrauen als Grundlage der Unternehmenskultur?
Das hört sich jetzt vielleicht etwas hochtrabend an. Aber im Grunde können wir ohne diese Offenheit heutzutage gar nicht mehr innovativ sein. Genau darum geht es ja beim Thema Diversity: Es hilft uns nichts, in abweichenden Perspektiven das Fremde – also letztlich den Konflikt – zu sehen, sondern wir müssen durch tiefes Vertrauen integrationsfähig werden. Indem wir alles, was der andere mitbringt, in den Prozess einbringen und etwas Neues entwickeln. Ich finde es deshalb eigentlich auch gar nicht so zielführend, immer nur zu fordern, man müsse mehr Vielfalt schaffen. Im Grunde müssen wir Vielfalt gar nicht schaffen. Sie ist schon da! Unsere Aufgabe ist es, sie richtig zur Enfaltung zu bringen.

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