»Hierarchie ist an sich nichts Schlechtes!«

Mitarbeitende sollen heutzutage unternehmerisches Denken lernen. Marita Hölzner, Professorin für Entrepeneurship, wünscht stattdessen jungen Menschen mehr Vertrauen, Mut, Selbstwirksamkeit, Ambiguitätstoleranz. Und sie fordert mehr unternehmerisches Handeln. Im Interview erklärt sie, wie Unternehmen agiler und innovativer werden können. Und wie sie damit auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben.

Heike Marita Hölzner ist Professorin für Entrepeneurship und Mittelstandsmanagement an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.
Heike Marita Hölzner ist Professorin für Entrepeneurship und Mittelstandsmanagement an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.
Sarah Kröger Redaktion

Frau Prof. Hölzner, in einem Zeitungskommentar haben Sie geschrieben, Deutschland verliere immer mehr an digitaler Wettbewerbsfähigkeit. Grund dafür sei das Mindset. Was brauchen wir denn für ein Mindset in deutschen Unternehmen?
Der Begriff Mindset ist mittlerweile zum Modebegriff geworden. Was früher Mut war, das heißt heute Mindset. Tatsächlich aber ist es ein Konzept, das aus der Kognitionspsychologie kommt. Es beschreibt die innere Haltung, die Einstellung einer Person zu sich selbst und ihrer Umwelt. In der Wirtschaft brauchen wir mehr Menschen mit einem Entrepreneurial Mindset. Diese Menschen glauben daran, dass sie selbst etwas bewirken und verändern können. Dass ihr Handeln als Individuum Einfluss auf das große Ganze haben kann. Der Fachbegriff dafür ist Selbstwirksamkeit und ist sehr wichtig im Entrepreneurial Mindset. Gleichzeitig ist noch eine weitere Haltung von Bedeutung, die auch als „dynamisches Selbstbild“ bezeichnet wird. Sie beschreibt den Glauben an unsere eigene Entwicklungsfähigkeit.
 

Was bedeutet das in der Praxis?
Erfolgreiche Gründerinnen und Gründer vertrauen darauf, dass sie auf dem Weg lernen, was sie brauchen, um wirksam zu werden. Leider ist uns diese Einstellung in der Gesellschaft etwas abhandengekommen. Wir haben oft den Anspruch, vorab schon alles können zu wollen. Dinge, die wir nicht können, die machen wir auch nicht – das ist unbequem, weil wir vielleicht scheitern könnten oder negatives Feedback erhalten. Alles wird im Vorfeld durchanalysiert, um jedes Risiko zu vermeiden. Das ist aber unrealistisch. Wir müssen wieder mehr eine Haltung entwickeln, die uns Wachstum ermöglicht. Anstatt von Anfang an perfekt zu sein, sollten wir dem Prozess vertrauen. Und daran glauben, dass wir die Fähigkeiten und das Wissen, um ein Problem in der Zukunft zu lösen, auf dem Weg lernen werden.
 

Was brauchen Unternehmen für Rahmenbedingungen, damit Mitarbeitende ein solches Mindset entwickeln können? 
Innovation und Entrepreneurship sind in den vergangenen Jahren zentrale Treiber des Wandels der gesamten Wirtschaft gewesen. Unternehmen erkennen immer stärker, dass sie in sich ständig verändernden Marktumfeldern innovativ und agil sein müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Um das zu schaffen, brauchen sie eine Unternehmenskultur, in der Ideen und auch Fehler willkommen sind, wie gerade schon erwähnt. Durch Schulungen und Workshops können wir Mitarbeitenden neue Methoden vermitteln, aber ein Kulturwandel braucht seine Zeit. Das führt mich zum nächsten Punkt: die nötigen Ressourcen. Denn Innovation ist kein Abfallprodukt, das nebenbei entsteht, sondern kostet Zeit und Geld. In Gesprächen mit Managern und Managerinnen erlebe ich oft die Vorstellung, es reiche aus, ab und zu mal einen inspirierenden Speaker zu holen oder einen Innovationstag im Jahr durchzuführen. Doch wenn ich in meinem Alltag mit meinem Tagesgeschäft vollständig ausgelastet bin, dann habe ich keine kognitiven Kapazitäten, um mich auf etwas Neues einzulassen.
 

Was sollten Unternehmen stattdessen tun?
Unternehmen müssen Freiräume schaffen, die nicht vorstrukturiert werden. Google macht das beispielsweise so: 20 Prozent der Arbeitszeit können sich die Mitarbeitenden mit ihren eigenen Ideen und Projekten beschäftigen. Glaubt man Google, stammen aus dieser freien Zeit Innovationen wie Gmail oder Google News. Last but not least ist Kollaboration sehr wichtig. Die interne Zusammenarbeit zwischen Abteilungen und in interdisziplinären Teams, aber auch die Zusammenarbeit mit externen Akteuren, wie Universitäten oder Start-ups. Auch hier sind die Erwartungshaltungen oft anders als die Realität. Nur weil ein Unternehmen einen Accelerator aufmacht, hat es im nächsten Jahr nicht gleich drei neue tolle Technologien entwickelt. Diese Zusammenarbeitsmodelle sind eher dafür geeignet, langfristige Veränderungsprozesse im Unternehmen anzustoßen.
 

Wie erreicht die von Ihnen beschriebene Unternehmenskultur, in der Ideen und Fehler willkommen sind, alle Mitarbeitenden im Unternehmen? Also auch die in der Kantine oder im Reinigungsservice? Gerade in großen Konzernen ist das keine leichte Aufgabe.
Ja, das stimmt. Auch hier spielt der Freiraum wieder eine große Rolle. Wir wünschen uns oft mehr unternehmerisches Denken bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich glaube, wir denken eh schon zu viel. Was ich mir daher vielmehr wünsche, ist unternehmerisches Handeln. All die großen disruptiven Geschäftsmodelle, die im letzten Jahrzehnt erfolgreich geworden sind – wie Airbnb, Uber, PayPal oder Instagram – wurden mit etwas ganz anderem erfolgreich, als sie ursprünglich gestartet sind. Ihr Erfolg war nur möglich, weil sie einfach angefangen haben. Dann stellten sie fest, was funktioniert und was nicht und haben ihr Produkt immer wieder angepasst. Diese Vorgehensweise ist nicht nur für Innovationsabteilungen relevant, das geht auch im Reinigungsservice. Wenn ich als Angestellte auf operativer Ebene Fehler sehe und beheben möchte und dann aber erst jemanden fragen muss, ob ich das darf, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich es gleich lasse. Vielleicht ist es mir zu aufwendig. Oder ich bin auch schon mal enttäuscht worden, weil meine Vorschläge nicht verstanden wurden, da die Führungskraft gar nicht mit meiner Arbeitsrealität vertraut ist. Das führt dann dazu, dass meine Selbstwirksamkeit reduziert wird. Gestaltungsspielräume sind wirklich auf allen Ebenen des Unternehmens wichtig.
 

Wie lässt sich unternehmerisches Handeln von Mitarbeitenden außerdem noch erreichen? 
Beim Werkzeughersteller Hilti haben alle Mitarbeitenden, meines Wissens nach, einen leistungsabhängigen Anteil von 20 Prozent in ihrem Gehalt. Diese 20 Prozent setzen sich aus dem Gesamterfolg des Unternehmens und dem Team-Erfolg zusammen. Das Team kann sich seine Leistungsziele selbst setzen.

Zum Beispiel könnte das Kantine-Team sich zum Ziel setzen, weniger Müll zu produzieren. So wird das Kollektiv gefördert, Eigenverantwortung gestärkt und es werden keine Einzelkämpfer belohnt. Das ist ein gutes Beispiel, wie Mitarbeitende im Unternehmen Selbstwirksamkeit erfahren können.
 

Nicht jede Führungskraft gibt gerne Entscheidungsspielräume und damit auch Kontrolle an ihr Team ab. Wie gehen Unternehmen damit um?
Momentan gibt es noch viele Führungskräfte in Unternehmen, die in eher hierarchischen Strukturen sozialisiert wurden. Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus empfinden sie es als Verlust von Bedeutung oder Macht, wenn sie Gestaltungsspielraum an ihre Mitarbeitenden abgeben. Gleichzeitig beobachte ich aber, dass wir in der Führungskultur in Deutschland in den letzten Jahren einen Wandel durchlaufen haben. Das kann immer noch besser werden, aber ich sehe heute viel mehr flachere Hierarchien, partizipativere Führung und mehr Fokus auf Teamarbeit und Kollaboration. Grund dafür ist nicht nur die Digitalisierung und Globalisierung, sondern auch die Corona-Pandemie, die da wie ein Katalysator gewirkt hat. Viele Unternehmen mussten zwangsweise neue Kommunikationswege schaffen und haben dafür Kollaborations-Software wie Microsoft Teams oder Slack eingeführt. In meinem Forschungsteam an der Hochschule nutzen wir beispielsweise Slack. Wenn ich ein Feedback von meinem Team einholen möchte, dann lasse ich es über ein Plugin abstimmen. Was findet ihr besser, Option A oder Option B? Das geht sehr schnell und schon weiß ich, wie das Team etwas sieht, ohne eine lange Diskussion anstoßen zu müssen. Zusätzlich fühlt sich mein Team beteiligt. Ich glaube, das ist auch in vielen Unternehmen passiert. Durch die Hintertür der Software wurden Prozesse nicht nur digitalisiert, sondern verändert und Führungsstile kooperativer.

Illustration: Sophia Hummler
Illustration: Sophia Hummler

Haben Start-ups Vorteile, weil sie oft schon sehr agil denken und arbeiten? 
In Start-ups ist es meistens genau andersherum. Sie haben nicht zu viel Hierarchie, sondern zu wenig, insbesondere dann, wenn sie schnell gewachsen sind. Denn Hierarchie ist ja an sich nichts Schlechtes. Sie ist erstmal nur ein Instrument, mit dem Entscheidungen effizient gestaltet werden können. Und es muss auch immer Menschen geben, die für bestimmte Entscheidungen am Ende des Tages die Verantwortung übernehmen. In einer Hierarchie ist das leichter zu kontrollieren als in einer sehr flachen Organisationsstruktur. Start-ups beginnen oft mit einem Gründungsteam, später kommen die ersten Mitarbeitenden hinzu und werden in der Hektik des Alltags nebenbei geführt. Dann kommen weitere Mitarbeitende und werden den anderen zugeordnet. Häufig kommt es irgendwann zu einem Punkt, an dem sich das Gründungsteam völlig überfordert fühlt, weil es keine Zwischenebenen gibt und zu viel an sie persönlich herangetragen wird. Dann muss Hierarchie nachgezogen werden. Weil wir diesen Begriff aber oft negativ konnotieren und Start-ups modern und mitarbeiterorientiert sein wollen, tun sie sich dann ein bisschen schwer damit. Dabei ist das ein Lernprozess, der wichtig ist. Viele verbinden den Begriff der Hierarchie vor allem mit Weisungskompetenz, mit Macht, mit oben und unten. 

Moderne Führungstheorien sehen Führung nicht mehr als oben und unten. Es gibt zum Beispiel das Modell des Servant Leadership. Da ist eigentlich die Führungskraft unten und unterstützt das Team. Ich setze Hierarchie auch nicht mit mehr Kompetenz gleich. Es gibt sehr viele Führungskräfte, die hervorragend qualifizierte Fachteams führen. Die Führungskräfte können gut organisieren und Probleme aus dem Weg räumen. Die Fachexpertise und damit eine andere Art von Kompetenz, liegt im Team. Eine gute Führungskraft weiß das auch und glaubt nicht, dass sie alles besser weiß. Für mich geht es hier letztlich um die Frage nach Informations- und Entscheidungswegen und nach Prozessen der Übernahme von Verantwortung.
 

Sie sind nicht nur Professorin, sondern haben auch selbst zwei Start-ups gegründet. Wie sieht Ihre Führungskultur aus?
Das erste Unternehmen, das ich gegründet habe, war ein E-Commerce Startup. Das zweite Unternehmen ist eine Innovations- und Beratungsagentur. Beim Thema Führung lerne ich jeden Tag noch mit dazu. Heute führe ich meine Teams anders, als ich das noch vor fünf Jahren getan habe. Ich war schon immer eine Führungskraft, die auf das Wohlbefinden der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geachtet hat und der Empowerment wichtig war. Ich musste allerdings lernen, dass der Wunsch nach Eigenverantwortung bei Mitarbeitenden trotzdem nicht bedeutet, dass ich mich als Führungskraft zu sehr aus dem Prozess nehmen darf. Die Aufgabe der Führungskraft ist es, einen geschützten Raum für Innovation zu schaffen, indem man zum Beispiel sagt: „Du kannst das jetzt entscheiden und ausprobieren. Und wenn es nicht funktioniert, hast du meine Rückendeckung.“ So können sich die Mitarbeitenden angstfrei ausprobieren. Hier geht es um die richtige Balance zwischen Freiheit und Umarmung. Das ist definitiv etwas, was ich über die Jahre gelernt habe. Deswegen glaube ich auch, dass man in die Rolle als Führungskraft reinwachsen muss.
 

Können Themen wie Führungskultur überhaupt im Studium schon vermittelt werden? 
Die Grundeinstellung zum Thema Führung kann man im Studium lernen, die Feinheiten müssen eher direkt im Job erlernt werden. Denn das Arbeiten mit Menschen lernt man nur, wenn man auch mit Menschen arbeitet. Aber natürlich lassen sich in den unterschiedlichsten Disziplinen der Betriebswirtschaftslehre schon moderne Führungsinstrumente vermitteln. In meinem Fach, Entrepreneurship, ist mir besonders wichtig, die falsche Vorstellung vom Planungsprimat zu korrigieren. Also die Fehlannahme, die oft noch in der Bildung vorherrscht, dass wir nur die richtigen Instrumente und Daten brauchen, um dann in der Praxis den „richtigen“ Weg vorzusagen. Dass es reicht, einen Businessplan für die nächsten fünf bis 10 Jahre zu schreiben und dann gibt es andere Leute, die den schon umsetzen werden. Denn ein Plan ist in dem Moment veraltet, in dem er fertig geschrieben ist. In unserer schnellen Welt ist es schon schwierig, zwölf Monate in die Zukunft zu gucken, geschweige denn zehn Jahre. Außerdem ist die Herausforderung nicht, den perfekten Plan zu schreiben, sondern ihn umzusetzen. Deswegen mache ich immer viele Formate für meine Studierenden, bei denen ich sie vermeintlich unvorbereitet ins kalte Wasser schubse.
 

Was sind das für Formate?
Ich unterrichte zum Beispiel ein Modul, das nennt sich Gründungswerkstatt. Die Studierenden bilden Teams und sollen sich gemeinsam eine Business-Idee ausdenken. Dann haben sie drei Monate Zeit zu überprüfen, ob es für das Produkt oder den Service tatsächlich einen Markt gibt. Das finden sie in meinem Kurs aber nicht raus, indem sie Marktanalysen fahren und Studien auswerten, sondern indem ich sie auf die Straße schicke. Sie führen Interviews, bauen Prototypen und machen Testkampagnen. Für viele Studierende ist es eine große Herausforderung, sich aus der Theorie in die Praxiswelt zu trauen. Aber nur so – das ist meine feste Überzeugung – bauen wir das auf, was wir Neudeutsch Future-Skills nennen. Dazu gehört auch die Ambiguitätstoleranz, also das Aushalten von Unsicherheiten. Wenn die Studierenden anfangs mit ihrer Idee zu mir kommen, dann wollen sie gerne von mir wissen, ob ich ihre Idee für gut halte. Ich sage ihnen immer: „Keine Ahnung, das weiß ich nicht.“ Oft sehe ich dann die blanke Panik in ihren Gesichtern, sie wollen natürlich auch eine gute Note haben. Dabei ist ihre erste Idee gar nicht so wichtig. Wenn die Studierenden den Prozess, die Idee zu überprüfen, ordentlich durchlaufen, dann gehen sie auch mit einer guten Business-Idee raus. Die ist dann vielleicht ganz anders als die Anfangsidee, aber das spielt dann keine Rolle mehr.
 

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