Die verschwundenen Milliarden

Zahlungsausfälle stellen ein Problem für die Wirtschaft dar. Die Gründe sind vielfältig – plötzliche Liquiditätsengpässe bei den Geschäftspartnern, schlechte Zahlungsmoral oder auch Betrug.
Illustration: Mario Parra
Illustration: Mario Parra
Interview: Klaus Lüber Redaktion

Ein Gespräch mit Volker Ulbricht (RA), Hauptgeschäftsführer Verband der Vereine Creditreform e.V.

 

Herr Ulbricht, wenn man über unternehmerische Risiken spricht, denkt man in der Regel an Naturkatastrophen, ökonomische Krisen oder große technologische Umbrüche – und nicht unbedingt daran, dass der ein oder andere Kunde seine Rechnung nicht pünktlich bezahlt.
Das Risiko des Zahlungsverzugs und schließlich des Zahlungsausfalls begleitet jeden Unternehmer. Es ist dadurch so alltäglich geworden, dass die tatsächliche Dimension kaum wahrgenommen wird. Das sollte sie aber! Denn der wirtschaftliche Schaden ist beträchtlich.
 

Was weiß man denn über den wirtschaftlichen Schaden von Zahlungsausfällen?
Bezogen auf die gesamte deutsche Wirtschaft haben wir es nach unseren Schätzungen mit einem hohen zweistelligen Milliardenbetrag in jedem Jahr zu tun.
 

Das ist eine riesige Summe. Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Zunächst gibt es recht genaue Daten über die Forderungsausfälle aufgrund von Unternehmensinsolvenzen. Diese werden von den Gläubigern ja zur sogenannten Insolvenztabelle angemeldet. Dies hat sich 2016 auf knapp 27,5 Milliarden Euro summiert. Dabei werden, wenn es überhaupt zum Verfahren kommt, im Durchschnitt nur rund zwei Prozent der Forderungssumme über die ausgeschüttete Quote noch realisiert. Darüber hinaus gibt es Forderungsausfälle, die unterhalb der Ebene der förmlichen Insolvenz entstehen, sowie den großen Bereich der Konsumenteninsolvenzen und Zahlungsausfälle bei Konsumenten. Diesen kann man zwar nicht so genau beziffern, aber es ist möglich, über das Gesamtvolumen an Forderungen von etwa sechs Billionen Euro und der uns bekannten anteilmäßigen Verteilung der Ausfallquoten zu einer Maximalzahl an Ausfällen zu kommen, die sich auf 93 Milliarden Euro beläuft. Wir schätzen die tatsächliche Zahl auf etwa 60 bis 70 Milliarden Euro.
 

Welche Gründe gibt es für Zahlungsausfälle?
Zahlungsstockungen beruhen in Teilen auf einer Unzufriedenheit der Kunden mit der Leistung. Eine nicht professionelle Reklamationsbearbeitung durch den Lieferanten schlägt sich auch in stockenden Zahlungen wieder. Es gibt dann auch noch einen weiteren Fehler auf Gläubigerseite. Man muss sich immer im Klaren darüber sein, dass die Art und Weise, wie man Außenstände als Gläubiger bearbeitet, vom Schuldner sehr aufmerksam registriert wird und man durch eine zögerliche Rechnungsstellung den Schuldner geradezu ermuntert, die Zahlung zurückzuhalten. Gerade bei kleinen Unternehmen kommt es oft vor, dass die Rechnung zu spät geschrieben wird. Damit sendet der Gläubiger im Subtext ungewollt die Nachricht: Das Geld ist mir gar nicht so wichtig. Das wird den einen oder anderen Schuldner vor allem im Konsumentenbereich dazu verleiten, erst einmal abzuwarten. Ein anderer Fehler ist es, viel zu viele Mahnungen zu verschicken. Auch das ist kontraproduktiv. Man vermittelt im Subtext die Nachricht: Ich weiß mir nicht zu helfen.
 

Man kann aber auch alles richtig machen und bekommt trotzdem kein Geld.
Der Schuldner zahlt dann etwa deshalb nicht, weil er tatsächlich in Schwierigkeiten ist. Dann kommt es darauf an, dass man ihn richtig anspricht und ein Verständnis dafür entwickelt, woran es liegt und in welcher Situation er sich befindet. So sind bestimmte Bauhandwerksbereiche im Winter keine besonders guten Zahler, was schlicht mit der Saisongebundenheit der Aufträge zusammenhängt. Darauf sollte man sich bei der Vereinbarung von Zahlungszielen einstellen. Dann gibt es aber natürlich auch die Fälle, bei denen der Schuldner grundsätzlich liquide ist, aber dennoch nicht zahlt. Oder es handelt sich schlicht um Betrug.
 

Welche Optionen hat der Gläubiger in diesem Fall?
Beim Zahlungsverzug ist es entscheidend, mit der notwendigen Konsequenz vorzugehen und das heißt, sich des professionellen Forderungsmanagements eines Rechtsdienstleisters zu versichern. Viele Schuldner werden erst dann aktiv, wenn sie merken, die Sache wird konsequent bearbeitet und der Gläubiger ist auch eskalationsbereit, indem er externe Unterstützung einholt. Wir sprechen hierbei auch vom sogenannten Third Party Effekt.

Neben den klassischen Inkasso-Dienstleistungen ist eine weitere Spielart des Forderungsmanagements stark im Aufwind: das Factoring. Wie schätzen Sie diesen Trend ein?
Factoring geht weit über das Inkasso hinaus und hat drei Funktionen: Zum einen handelt es sich um eine Finanzierungsfunktion, quasi eine Alternative zum kurzfristigen Bankkredit zur Finanzierung des Umlaufvermögens. Dann gibt es die so genannte Verwaltungsfunktion. Sie ist besonders interessant für Unternehmen, die ihre Buchhaltung entlasten wollen. Und schließlich die sogenannte Delkredere-Funktion:  Wenn die Forderung nicht eingetrieben werden kann, geht das in der Regel zulasten des Factors. Nach aktuellen Zahlen gibt es in Deutschland mehr als 35.000 Unternehmen, die Factoring nutzen. Im letzten Jahr wurde ein Umsatz der Factoringbranche von 222 Milliarden Euro erreicht. Das ist im internationalen Vergleich noch wenig, aber die Branche wächst sehr stark.
 

Welche Möglichkeiten haben Firmen, sich schon im Vorfeld gegen das Risiko von Zahlungsausfällen abzusichern?
Das A und O ist natürlich die Prävention. Zum Forderungsmanagement gehört in allererster Linie, dass man sich vor schwachen Schuldnern schützt. Wenn ein Unternehmen ein schwaches Forderungsmanagement zeigt oder aus Kostengründen von einer Bonitätsprüfung ganz absieht, etwa bei sehr kleinen Bestellwerten, dann wird sich das herumsprechen bei der entsprechenden Klientel, die das dann gezielt ausnutzt. Man spricht hier von einer adversen Selektion. Der wirtschaftliche Schaden, der dadurch entsteht, kann beträchtlich sein.

Lange wurde die schlechte Eigenkapitalquote der Firmen als Risikofaktor für Zahlungsausfälle angeprangert. Ist das noch ein Problem?
Das ist mittlerweile von abnehmender Virulenz. Wir beobachten seit Jahren eine kontinuierliche Verbesserung der Eigenkapitalquote, die in der Tat lange besorgniserregend schlecht war, insbesondere im Baugewerbe und im Dienstleistungsbereich. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 stellen wir aber einen starken Trend zum soliden Wirtschaften fest. Deutsche Unternehmen haben Gewinne thesauriert und ihre Bilanzstrukturen insgesamt verbessert. Inzwischen weisen 29,3 Prozent aller Unternehmen eine Eigenkapitalquote von über 30 Prozent auf. Das ist ein guter Wert.
 

Gibt es einzelne Branchen, die besonders stark von Zahlungsausfällen betroffen sind?
Zunächst kann man festhalten, dass der überwiegende Anteil von Zahlungsstörungen im Bereich B2C zu verorten ist. Das Creditreform Inkasso bearbeitet in drei Viertel aller Fälle Forderungen gegen Verbraucher. Die wichtigsten Auftraggebergruppen sind diejenigen, die im großen Stil Leistungen gegenüber Privatpersonen erbringen und dabei in Vorleistungen gehen. Das sind zum Beispiel Energieversorger, Telekommunikationsunternehmen und Banken, die Konsumentenkredite vergeben. Und schließlich werden für den boomenden E-Commerce-Bereich Zahlungsstörungen zu einem immer ernster zu nehmenden Risikofaktor.

Warum ist besonders der Onlinehandel betroffen?
Der hier zugrundeliegende Trend ist der zunehmende Bedeutungsverlust des Bargeldes. Immer mehr Transaktionen des täglichen Lebens wandern weg vom stationären Einzelhandel ins Internet. Und dort wird eben nicht mit Bargeld bezahlt, sondern mittels eines ganzen Bündels von Zahlungsarten. Ein Teil dieser Verfahren ist für den Händler mit einem höheren Risiko behaftet, und zwar der Kauf auf Rechnung und die Lastschrift. Dies sind aber genau diejenigen Zahlarten, welche die Kunden am meisten präferieren.
 

Sind das Erfahrungswerte?
Richtig – die aber abgesichert sind durch wissenschaftliche Analysen. Online-Shops, die als Zahlart nur Kreditkarte, Vorauszahlung und PayPal anbieten, stellen in der Regel fest, dass die Kunden, nachdem sie ihren elektronischen Einkaufswagen gefüllt haben und zur Kasse gehen, den Einkauf überdurchschnittlich oft wieder abbrechen. Dabei ist die so genannte Conversion Rate, also der Anteil derjenigen Shop-Besucher, die zu zahlenden Kunden werden, immens wichtig für jeden Online-Shop. Um diese Rate zu erhöhen ist nichts so effektiv wie das Angebot des Kaufes auf Rechnung.
 

Weil es wiederum das Risiko für den Käufer minimiert?
Ja, der Käufer hält sich erst einmal bedeckt, lässt die Ware kommen, schaut sie sich an und schickt sie vielleicht wieder zurück. Grundsätzlich gesprochen: Niemand geht gerne in Vorleistung. Hinzu kommt, dass vielen Kunden die Offenbarung ihrer Kreditkartennummer über das Netz nicht sicher erscheint.
 

Und der Gläubiger?
Der muss das Ausfallrisiko vernünftig managen. Einerseits befördert er durch das Angebot von für ihn unsicheren Zahlarten die Kaufbereitschaft, andererseits schafft er die Notwendigkeit, die Bonität seiner Kunden zu prüfen und ein funktionierendes Forderungsmanagement einzurichten. Übrigens wird sich nach allen Prognosen auch in naher Zukunft nichts an dieser Lage ändern. Der Trend zum Online-Shopping hält an, und auch die Präferenz der Deutschen für den Kauf auf Rechnung ist ungebrochen. Das gilt gleichermaßen auch für den Einkauf im B2B Bereich.
 

Vor welchen zukünftigen Herausforderungen steht das Forderungsmanagement?
Was wir in den nächsten Jahren verstärkt beobachten werden, ist eine zunehmende Individualisierung der Schuldneransprachen – etwa in Abhängigkeit von Profil und Verhalten. Hierbei können selbstlernende prädiktive Systeme eine wichtige Hilfestellung geben. Zum Beispiel indem man die Schuldnerreaktion semantisch auswertet und darüber Rückschlüsse auf dessen sozioökonomischen Status zieht. Das Gleiche gilt für die richtige Wahl des Kommunikationskanals. Wir haben heute ja ein breites Spektrum an Möglichkeiten, nicht nur Brief und Telefon, sondern auch E-Mail und SMS. Da gilt es auch, herauszufinden, über welchen Kanal ich den Schuldner am besten anspreche. 

 


Volker Ulbricht
ist Wirtschaftsjurist und begann seine berufliche Laufbahn 1985 beim Verband der Vereine Creditreform e.V., Neuss. 1991 wurde er Chefsyndikus eines führenden Baustoffherstellers und bekleidete diese Position zehn Jahre lang. Seit 2001 ist er Geschäftsführer des Verbandes der Vereine  Creditreform e.V., seit 2009 Hauptgeschäftsführer des Verbandes.